Die Berlinale wird zur Baustelle
Wie viel Berlinale braucht Berlin? Und wie viel Berlin braucht das Festival? Am Sonntag gehen die 72. Filmfestspiele zu Ende, in diesem besonderen Jahr, mit pandemiebedingt anderem Takt. Und mit vielen offenen Fragen.
Wegen Omikron war der Glamourfaktor noch geringer als zuvor, über den roten Teppich flanierten nur wenige Stars. Einerseits. Andererseits ist ein Großteil der Vorstellungen ausverkauft, in den traditionellen Festivalkinos wie am neuen Spielort im Steglitzer Titania-Cineplex. Die Festivalleitung hat hoch gepokert mit ihrer Präsenz-Berlinale trotz Rekordinfektionszahlen, sie hat das Risikospiel gewonnen. Trotz 2G-plus-Maske-und-Abstand zählte sie bis Freitag 140 000 verkaufte Tickets für die zur Hälfte belegten Säle. Eine beachtliche erste Bilanz.
Wie geht es weiter, räumlich, strukturell, kulturell? Der Potsdamer Platz, derzeit ein besonders trostloser Ort, erscheint wie ein Menetekel für die Berlinale, die vor 22 Jahren am damals funkelnagelneu errichteten Zentrum unter dem neuen Festivalchef Dieter Kosslick einen fulminanten Neustart hinlegte.
Ende einer Ära? Nein, eine Durststrecke, heißt es. Man wünscht es dem Publikumsfestival von Herzen, dass es sich tatsächlich so verhält.
Bald soll alles besser werden. Im Frühjahr sollen die hinter Bauzäunen verrammelten Arkaden wiedereröffnet werden, auch vom geplanten anschließenden Umbau zur belebten Fußgängerzone könnte das Festival profitieren.
Der Mietvertrag für den Berlinale Palast wurde soeben bis 2025 verlängert, wobei die übrige Bespielung durch den Pächter wegen Corona vorerst geplatzt ist. Es würde dem Festival schaden, wenn der Berlinale Palast weiter vor sich hinstaubte, nur um im Februar aus dem Dornröschenschlaf gerissen zu werden. So oder so: Das Gelände wird erst mal Baustelle bleiben.
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Braucht ein Filmfest in Zeiten der Streamingdienste überhaupt noch ein Zentrum, zumal die Berlinale seit jeher die gesamte Stadt bespielt, bis in die Kiez-Kinos? Unbedingt, jedenfalls als Publikumsmagnet mit unterbrochener, aber ungebrochener Strahlkraft. Corona als Brennglas, auch hier. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft vor der großen Leinwand, nach Austausch, nach Bildern und Menschengeschichten, denen man sich ohne Ablenkung aussetzt, wird nicht kleiner, bloß weil das Heimkino rund um die Uhr zur Verfügung steht.
Deshalb gehört die Frage, wo künftig das Herz der Berlinale schlägt, auf die Dringlichkeitsliste des Landes Berlin wie für den Bund als Träger. Wenn der Potsdamer Platz nicht in absehbarer Zeit wieder attraktiv wird, muss eine neue Hauptspielstätte her, mit Hotels und Gastronomie in der Nähe und einer Location für den Filmmarkt, der gerade zwei Online-Ausgaben erlebt hat und dessen Zukunft gewiss hybrid sein wird.
Auch das Sony-Center vis-à-vis wird ja bald umgebaut. Das Cinestar dort, lange ebenfalls Festivalspielstätte, ist geschlossen, das Schicksal des Filmhauses mit Museum, Kinemathek und den Arsenal-Kinos höchst ungewiss. Die Pläne für ein neues Filmhaus liegen auf Eis. Schon kursieren Gedankenspiele, ob nicht das ICC als Alternative für die Berlinale taugt.
Die Wettbewerbsauswahl beweist weniger Mut als das Bemühen um Ausgewogenheit
Und die Filmkunst? Carlo Chatrian setzt in seinem dritten Jahr als künstlerischer Leiter die von seinem Vorgänger Kosslick eingeschlagene Richtung fort.
Kein Kampf mehr um Hollywoodfilme, kein Konkurrenzstreit mehr mit Cannes als Schaufenster für die big names des Autorenkinos und mit Venedig als Oscar- Startrampe. Sondern die Konzentration auf mutige, unabhängige Filme und neue Namen. Die Filme sollen die Stars sein. Goldbären-Gewinnerin Carla Simón gehörte 2015 zu den Teilnehmerinnen des Talent-Workshops, aber die Berlinale darf nicht um sich selbst kreisen.
Das Problem: Chatrians Wettbewerbsauswahl beweist weniger Mut als das Bemühen um Ausgewogenheit. Die radikaleren Filme finden sich in anderen Reihen, dem Wettbewerb fehlt Profil. Berlin ist berühmt für seine Baustellen, für seine legendäre Unfertigkeit. Auch die Berlinale ist eine Baustelle. Das ist eine Chance – und eine Gefahr.