Das wilde Einhorn zähmen

Was der Fantasie entspringt, hat Flügel, Klauen, Federn und Schwänze. Der Kampf mit diesen Bestien tobt zu Wasser, auf dem Lande und in der Luft. Sie scheinen meistens keine friedlichen Absichten zu haben. Aber gibt es sie wirklich? Die fein schraffierten Muskelpartien, weit aufgerissenen Mäuler und plastisch schattierten Körper lassen keinen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit.

Wenn moderne Fantasy-Welten sich digitalgestützt mit Monstern, Drachen und Zauberwesen bevölkern, sind sie die Erben einer jahrhundertealten Tradition animalischen Wildwuchses. Welche Kreaturen herausflattern und -kreuchen, wenn das Bestiarum des Kupferstichkabinetts seine Käfige öffnet, zeigt ein Kabinett mit 31 Radierungen, Holzschnitten und Kupferstichen in der Gemäldegalerie.

Drachendarstellung mit Schockereffekt

Das älteste Blatt aus der Zeit um 1460 arbeitet gleich mit vollem Gruselschockereffekt. Der giftgrün handkolorierte Drache glotzt einem mit seinem Riesenauge, hautnah im Vordergrund entgegen. Den Zipfel von Margaretes Gewand hat er schon mit den Zähnen gepackt.

Aber die heilige Jungfrau, die er verspeisen will, hockt auf seinem Rücken wie auf einem Reittier: siegreich mit Gottes Hilfe. Im atavistischen Kampf zwischen Gut und Böse übernehmen die mythischen Fabeltiere gewöhnlich den Negativpart. Dass der Heilige Georg die Oberhand behält, Herkules die vielköpfige Hydra selbstverständlich austrickst, daran lassen die Darstellungen keinen Zweifel.

Ovids “Metamorphosen” lieferten das Skript

Aber nicht immer ist der Ausgang derart eindeutig. Albtraumhaft drastisch schildert Manierist Hendrick Goltzius, wie sich die Zähne eines Untiers in das Gesicht eines Gefährten des Königssohn Cadmos bohren. Ovids „Metamorphosen“ lieferten das Skript. Ein wohliger Schauder der Kunstkenner beim Betrachten der erbaulichen Darstellungen im virtuosen Schwarzweiß der Druckgrafik war einkalkuliert. Blutrünstige Darstellungen sind kein Privileg der Moderne.

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Wild stürmt das Einhorn auf die von Kämpfern vollgestopfte Bildbühne bei Jean Duvet, um 1555. Viele sind schon verletzt, keiner kann es besiegen. Dass dies, der Legende gemäß, nur einer Jungfrau gelingen kann, beweist eine zierliche Madonnendarstellung.

Sie hält das Tier wie einen edlen Schoßhund, handzahm trotz seines gereckten Horns. Wie sich antike Geschöpfe in den Bildfantasien christlicher Epochen fortpflanzen, zeigt sich am Beispiel des Greifen.

[Gemäldegalerie am Kulturforum, bis 5. Juni, Di bis Fr 10-18 Uhr, Sa und So 11-18 Uhr]

Das stolze Mischwesen mit Adlerkopf und Löwenkörper entstammt altägyptischer Mythologie. Als Machtsymbol hoben es europäische Herrscher aufs Schild und ins Wappen. Naturkundlich exakt schildert der Niederländer Wenzel Hollar diese Spezies inmitten präzise beschrifteter Kräuter und Pflanzen. Noch im 17. Jahrhundert glaubte man an seine Existenz.

Das „Buch der Natur“ war eben – ein dickleibiges, illustriertes Nachschlagewerk des 15. Jahrhunderts blättert es auf – mit den unmöglichsten Kreaturen bestückt. Zwischen allerlei Vipern und Nattern posieren da im Holzschnitt auch Sirenen, also Mischwesen mit Frauenkopf, Flügeln und Schlangenleib.

Frauenpower und Dämonie

Die unheilige Allianz aus sinnlicher Frauenpower und teuflischer Dämonie eskaliert im erbitterten Luftkampf des Heiligen Antonius gegen die Kräfte der Versuchung. Auf einem panoramaartigen Wimmelbild aus den Niederlanden von 1522 geben sich übelste Wahnwesen ein Stelldichein. Sie alle auf dem minutiös gearbeiteten Blatt zu entdecken, ist nicht nur mit einem Blick getan.

Im 18. Jahrhundert endet die Safari durch das Reich der imaginären Tiere. Für den Schweizer Grafiker Johann Rudolf Schellenberg sind sie nur noch als Karikaturen menschlicher Eigenarten und Schrullen gut. Alle Dämonie scheint ihnen aufklärerisch ausgetrieben. Aber ihren wilden Atem haben die Ausgeburten der Fantasie noch lange nicht ausgehaucht. Wer einschläft, kann ihnen begegnen.