Jede Stimme braucht Gehör

Keine schlechte Methode für Zeiten wie diese, in denen sich Perspektiven schneller ändern als man hinsehen kann: Man prägt einen Begriff und lässt ihn durch immer neue Raster laufen. So zumindest macht es der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch, der seine Überlegungen zur „Postdemokratie“ nun ein weiteres Mal einer Neubewertung unterzieht. Schließlich war die Welt 2005, als er den Begriff profilierte, eine andere als heute. Kleinere Anpassungen nahm er bereits in „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ (2011), „Die bezifferte Welt“ (2015) und „Gig Economy“ (2019) vor. In „Postdemokratie revisited“ erklärt er die ursprüngliche Fassung seiner Theorie für überholt.

[Colin Crouch: Postdemokratie revisited. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 278 Seiten, 18 €.]

Dabei war sein Modell von Anfang an nicht deskriptiv, sondern als Warnung gedacht. Denn „Postdemokratie“ meint nicht das Gegenteil von Demokratie, sondern die schleichende Erosion der repräsentativen Demokratie, die so sehr zur Routine geworden ist, dass sich die Bürger*innen auf ihr reibungsloses Funktionieren verlassen. Es ist die Stunde derjenigen, die mit Politik und Staat mehr anzufangen wissen als der Durchschnitt. Die Tatsache, dass die meisten mit der Abgabe ihrer Stimme bei einer Wahl ihr Soll an politischem Handeln für erfüllt halten oder sogar auf ihr Wahlrecht verzichten, kommt anderen Playern gerade recht.

Eine liberale Demokratie operiere auf zwei Ebenen, betont Crouch. Die eine ist die bei einer Wahl abgegebene Stimme: Jede hat das gleiche Gewicht. Die andere ist jener „informelle“ Prozess des Aushandelns zwischen Politik und Gesellschaft, in der sich der einzelne Bürger nur schwer situieren kann. Auf dieser Ebene können Verbände und Interessensgemeinschaften ihren Einfluss geltend machen, aber auch Privatpersonen, die über genügend finanzielle Ressourcen verfügen, um Lobbyarbeit zu betreiben.

Wachsende Ungleichheit

Ein gewisses Maß an Ungleichheit in diesem Sektor ist für eine Demokratie ertragbar. Spreizt sie sich zu weit auf, untergräbt sie den demokratischen Prozess. Bemerkenswerterweise gehören laut einer OECD-Studie „,institutionelle’ und politische Kräfte zu den wichtigsten Ursachen der wachsenden Ungleichheit“.

Für das Verhältnis der Wirtschaft zum Staat spricht Crouch mit Recht von einer „semipermeablen Membran“. Unter den Auspizien des freien Marktes, der, so seine Befürworter, am besten funktioniere, wenn man das freie Spiel der Kräfte erlaube, wird jede Einmischung des Staates für schädlich erklärt. Umgekehrt fordert die Wirtschaft bei jeder Gelegenheit staatliche Hilfen. Infrastrukturmaßnahmen kommen auch der Gesamtbevölkerung zugute.

Subventionen und Steuererleichterungen nützen jedoch vor allem der Wirtschaft, die solche Privilegien gern mit der „Trickle-down-Theorie“ legitimiert, also der Annahme, der Wohlstand der Reichen sickere ganz von allein nach unten durch. Das hat sich als Irrtum erwiesen, wie etwa Thomas Piketty zeigt. Der Zuwachs bei Löhnen und Gehältern kann bei weitem nicht mit den Renditen großer Vermögen mithalten.

Wird also alles immer schlechter? Oder gibt es Hoffnungsschimmer am Horizont? Eine lebendige Demokratie bedeutet für Crouch, dass die Mehrzahl der Bürger die Chance hat, öffentliche Debatten mitzubestimmen. Drei große Bewegungen habe er bisher unterschätzt: „den Feminismus, den Umweltschutz und die Fremdenfeindlichkeit“. Er prägt den Begriff des „nostalgischen Pessimismus“, der Verklärung des Gestern im Glauben, man könne dorthin zurückkehren. Das ist gewiss keine Position, die erneuernd wirken kann. Eine Demokratie muss sie aber aushalten, solange sie nicht zu Gewalt und Rechtsbrüchen führt.

Dass kein Nationalstaat die Probleme alleine lösen kann, ist evident. Die globale Verflechtung der Wirtschaft erfordert globale Regeln. Crouch würdigt die EU als immerhin einzigen Versuch einer „transnationalen Demokratie“. Insofern ist es durchaus plausibel, dass er in der Sars-Cov-2-Pandemie eine Chance sieht. Sie hat die Notwendigkeit zu globaler Kooperation ins Bewusstsein gehoben. Und sie hat das Verhältnis zwischen Politikerinnen und Bürgern neu justiert. Auf politischer Ebene wird verhandelt, was den Alltag der Bürgerinnen direkt bestimmt. Vor allem aber muss die Politik mit der Bevölkerung kommunizieren und braucht aktiv deren Kooperation.

Fehlende Bändigung des Finanzmarkts

„Post-Democracy After the Crises“ heißt das im Herbst 2020, also in der zweiten Welle und nach der US-Wahl beendete Buch im Original. Die Finanzkrise 2008 und die Eurokrise 2010 haben das Problem fehlender Bändigung von Wirtschaft und Finanzmarkt verschärft. Die Lektion ist deutlich: Jedes Unternehmen, das sich als „too big to fail“, also „systemrelevant“ darstellen kann, wird mit staatlicher Hilfe gerettet. Anders könnte es mit der Sars-CoV-2-Pandemie werden. Sie hat gezeigt, dass die Daseinsfürsorge nicht allein wirtschaftlichem Kalkül unterworfen werden darf.

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Das „New Public Management“ hat an den falschen Stellen gespart. Die soziale Kluft ist eher größer geworden, sowohl in den Staaten selbst als auch zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden. Kann man trotzdem hoffen, dass sie der Demokratie zugutekommt? Dass die Systemfrage nicht unbedingt zugunsten der Demokratie ausgeht, übersieht Crouch. Trotzdem lässt sich vielleicht von einem „Augenblick der Demokratie“ sprechen, zumindest in wohlhabenden Ländern.

Die Pandemie ist auch ein Kurs in zivilgesellschaftlichem Engagement, in Rücksichtnahme und Abwägen, in Verantwortung und vielleicht auch in Staatsbürgerkunde. Wurde in Deutschland jemals seit 1989 so intensiv über Regierung, Parlament und Verfassungsorgane gestritten wie im letzten Jahr, über Freiheiten, Grundrechte, Institutionen, Bund und Länder? Die bevorstehende Bundestagswahl ist auch eine Art Test, ob der Kurs etwas bewirkt. Colin Crouchs „Postdemokratie revisited“ ist ein guter Kompass, um sich im politischen Feld zu orientieren.