Alles außer gewöhnlich
So ein Sinfonieorchester ist eine fantastische Sache. 60 bis 80 hoch qualifizierte Profis, manchmal sogar noch mehr, kommen zusammen, um nur für den einen magischen Moment eine Partitur zum Leben zu erwecken. Und zwar in kompletter Handarbeit. In Berlin gibt es gleich mehrere Ensembles, die diese Art des Manufaktum-Musizierens auf Weltklasseniveau bieten – und immer im Frühherbst kommen sie in der Philharmonie zusammen, um sich in einem freundschaftlichen Wettbewerb mit auswärtigen Spitzenorchestern zu messen.
In der Mauerstadt trug der Saisonauftakt den Namen „Berliner Festwochen“, 2005 wurde das freudige Ereignis in „Musikfest Berlin“ umgetauft. Und seit 15 Jahren arbeitet nun schon Winrich Hopp als künstlerischer Leiter daran, den gesellschaftlichen Glanz des Events, den sich die geldgebende Politik wünscht, mit Inhalten zu verbinden, die den Begriff „außergewöhnlich“ anders übersetzen. Der 1961 in Berlin geborene studierte Musikwissenschaftler und Philosoph wird nicht müde, bei den noblen Orchestern aus nah und fern dafür zu werben, sich gerade hier mit Werken zu präsentieren, die jenseits ihres üblichen Repertoires liegen.
Nicht allein die Bravourstücke, die den sicheren Publikumsjubel garantieren, sollen es sein, nein, beim Auftritt in Berlin mögen alle Beteiligten doch bitte möglichst weit aus ihrer Komfortzone ausbrechen. Noch nie war Winrich Hopp mit seinem Anliegen so erfolgreich wie in diesem Jahr. Abgesehen von Daniel Barenboim, der ja für sich in Anspruch nimmt, in einer eigenen Klasse zu spielen, und darum mit seiner Staatskapelle einen ultrakonventionellen reinen Schumann- Abend gestaltet, machen alle Maestri mit.
Lange schon war der Strawinsky-Schwerpunkt geplant
Seine charmante Beharrlichkeit vermag Hopp durch eine authentische Liebe zum Abseitigen zu beglaubigen: von den ästhetisch exotisch anmutenden Sphären der Vorklassik über die Meilensteine der Moderne bis hin zu den allerneuesten Werken jener Komponistinnen und Komponisten, mit denen er freundschaftlich verbunden ist. Aber er konzediert im Gespräch auch, dass die Zeit für ihn arbeitet. Orchester verjüngen sich, eine neue Interpretengeneration wächst heran, die nicht mehr allein auf „die drei großen B“ fixiert ist, also Beethoven, Brahms, Bruckner.
Und so waren die Reaktionen der Dirigenten aufgeschlossen bis euphorisch, als Hopp ihnen von seinem lang gehegten Plan erzählte, beim „Musikfest Berlin“ 2021 das Spätwerk von Igor Strawinsky in den Mittelpunkt zu stellen. Der russische Komponist ist eine der faszinierendsten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. 1882 im zaristischen Russland geboren, vor der Oktoberrevolution nach Frankreich geflohen, 1940 schließlich in die USA emigriert, wechselte er in seinem langen, bis 1971 währenden Leben mindestens ebenso häufig den Kompositionsstil wie den Wohnsitz.
In den Kanon der Klassik aber haben es lediglich ein paar wenige Ballettmusiken geschafft, die zwischen 1910 und 1920 entstanden sind, allen voran der bei der Uraufführung skandalumwitterte „Sacre du Printemps“, außerdem der „Feuervogel“, „Petruschka und Pulcinella“. Danach begann das, was die Musikwissenschaftler Strawinskys „neoklassizistische Phase“ nennen: Er interessierte sich intensiv für Barock, Renaissance und Mittelalter und verarbeitete die Ästhetiken der weit zurückliegenden Epochen dann auf seine Art.
Aber auch für seine Gegenwart hatte er ein offenes Ohr, für Schönbergs Zwölftontechnik ebenso wie für die radikalen Werke des jungen Pierre Boulez. „Auf die Musik anderer zu hören, ist eine ausgeprägte Haltung bei Strawinsky“, sagt Winrich Hopp. „Aber er bleibt dabei immer frei.“
Venedig wird eine geistige Heimat für den Komponisten, alle wichtigen Spätwerke erleben hier ihre Uraufführung. „Sein Leben lang hat sich Strawinsky dezidiert abgewendet von dem sogenannten deutsch-symphonischen Repertoire“, betont Winrich Hopp. Besonders die emotionale Überwältigungstaktik der Romantik war ihm zuwider.
“Diese Musik besteht nur noch aus Knochen””
„Spröde“ ist ein Adjektiv, das oft im Zusammenhang mit Strawinskys Spätwerk fällt. Winrich Hopp mag sich da aber nicht anschließen. Er verweist lieber auf die Parallelen zum alten Picasso, dessen Radikalität nur noch wenige verstanden. „Es ist ein ungemein faszinierendes Oeuvre, aber denkbar weit weg von dem, was wir für gewöhnlich im Konzertsaal hören. Diese Musik besteht eigentlich nur noch aus Knochen. Gleichzeitig aber hat sie Vitalität, weil Strawinsky sehr innovativ ist im Umgang mit den Rhythmen. Und weil er ein archaisches Orchester kreiert: Die traditionellen Instrumente klingen teilweise uralt, als ob hier die Vorgeschichte der Musik erzählt würde.“
In seinen letzten Lebensjahrzehnten war Strawinsky ein Festivalkomponist: Er wurde als Ikone herumgereicht, von Kennedy nach Washington eingeladen, ja sogar Hollywood versuchte, ihn für Filmmusiken zu gewinnen. Auch in Berlin schmückte man sich gerne mit dem großen Namen, 1956 dirigierte Strawinsky eigene Werke bei den „Festwochen“, 1963 leitete er bei den Philharmonikern die deutsche Erstaufführung von „Abraham und Isaak“, mit Dietrich Fischer- Dieskau als Solisten.
Als es 1980 in der Akademie der Künste eine große Ausstellung zu seinem Leben gab, wurden in den begleitenden Konzerten aber vor allem die bewährten Werke aus der Pariser Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gespielt.
Das radikalste Musikfest-Programm, das es je gab
Mit dem Fokus auf das Spätwerk Strawinskys und der Bereitschaft der Künstler:innen, daneben auch jede Menge neue und neueste Werke vorzustellen, entwickelte sich das Programm des „Musikfest Berlin 2021“ zum radikalsten Angebot, das Winrich Hopp dem Publikum bisher unterbereitet hat. In der Ankündigung des 24-tägigen Festivals, das am heutigen Samstag mit dem Gründungskonzert des Bundesjugendchores beginnt, verspricht er zwar „100 Werke von 52 Komponist:innen aus fünf Jahrhunderten“, doch die Betonung liegt deutlich auf den zeitlichen Rändern. Während in der Mitte ein Loch klafft: Die Stücke aus dem 19. Jahrhundert, die bis zum 20. September erklingen werden, kann man an einer Hand abzählen. Im normalen Konzertbetrieb ist das Verhältnis umgekehrt.
Genauso hat es sich Hopp immer gewünscht: Denn er will in der Ausnahmesituation eines Festivals den Hörer:innen die Begegnungen mit Werken ermöglichen, die es verdient haben, in den Kanon der Klassik aufgenommen zu werden. So kann das Musikfest auch seiner kulturpolitischen Symbolfunktion gerecht werden. „Das Festival macht man nicht nur für Berlin, es hat eine große Verantwortung europaweit“, findet er. „Nämlich dahingehend, dass die Orchester wissen, dass sie in uns einen Ansprechpartner haben. Indem sie sich in Berlin präsentieren, beweisen sie gleichzeitig auch zu Hause die Notwendigkeit ihrer Existenz.“