Comic „Das Verschwinden des Josef Mengele“: Sehnsucht nach dem Vierten Reich
Die Fahndung nach dem Kriegsverbrecher Josef Mengele blieb lange erfolglos. Mengele war Lagerarzt im KZ Auschwitz und dort für massenhafte Verbrechen verantwortlich. So nahm er als SS-Offizier Selektionen vor, entschied in tausenden Fällen darüber, wer arbeitsfähig war, und wer sofort in die Gaskammern geschickt wurde. Außerdem unternahm er unzählige medizinische Experimente an Kindern, Zwillingen insbesondere, die an Grausamkeit nicht zu überbieten waren.
Erst lange nach Mengeles Tod 1979 wurde publik, wie seine Flucht verlief und wo er sich versteckt hielt.
Früh beflügelte sein noch ungeklärter Verbleib die Fantasie von Filmemachern und Schriftstellern: Mengele tauchte zunächst ungenannt als KZ-Arzt in Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ (1963) auf, wurde dann Vorbild für die Figur des in Südamerika untergetauchten Folter-Arztes Szell (verkörpert von Laurence Olivier) im Film „Der Marathon-Mann“ (1976). In Ira Levins 1978 verfilmten Roman „The Boys from Brazil“ stand Mengele (Gregory Peck) namentlich im Zentrum und widmet sich dem Klonen von Adolf Hitler.
Die frühen Aneignungen des Stoffes erlagen dem Mythos des verschollenen Nazi-Kriegsverbrechers und trugen noch zur Mythenbildung bei.
In Art Spiegelmans preisgekrönter Graphic Novel „Maus“, die von Überlebenden des Holocausts handelt, tritt Mengele wiederum fast beiläufig auf, als er den Erzähler Wladek Spiegelman in Auschwitz-Birkenau zu den Arbeitsfähigen selektiert.
Der Autor schrieb auch das Drehbuch zu „Der Staat gegen Fritz Bauer“
Der 1974 in Straßburg geborene französische Journalist und Autor Olivier Guez schuf vor sechs Jahren die mit dem französischen Literaturpreis „Prix Renaudot“ ausgezeichnete Romanvorlage zur nun im Knesebeck Verlag erschienenen Graphic Novel „Das Verschwinden des Josef Mengele“.
Zuvor schrieb er zusammen mit dem Regisseur Lars Kraume auch das Drehbuch zum deutschen Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015), der vom Engagement des Frankfurter Generalstaatsanwalts Bauer handelte, Adolf Eichmann aufzuspüren und festzunehmen.
Sorgfältige Recherche und erzählerische Nüchternheit prägen auch Olivier Guez‘ Mengele-Roman . Die Graphic Novel-Adaption (Text: Matz alias Alexis Nolent) hält sich an Guez‘ Struktur: Sie beginnt um 1949 mit der Überfahrt Josef Mengeles auf einem Schiff nach Argentinien.
Rückblicke folgen, die Mengele in einem Gefangenenlager kurz nach Kriegsende zeigen, wo er von US-Soldaten nicht als Kriegsverbrecher identifiziert und daraufhin freigelassen wird. 1949 arbeitet er unter falschem Namen als Knecht auf einem deutschen Bauernhof und wird gewarnt, dass er gesucht werde. Ein Freund der einflussreichen Familie Mengele organisiert seine Flucht nach Südamerika.
Hilfe von Exil-Nazis und der Familie aus Bayern
In Buenos Aires während der Perón-Diktatur fühlt er sich zunächst fremd, wird aber bald in einen Kreis ehemaliger Nazis aufgenommen, die vom „Vierten Reich“ träumen. Durch finanzielle Unterstützung seiner Familie, die in Günzburg (Bayern) eine florierende Agrarmaschinenfabrik betreibt, kann Mengele sich in den folgenden Jahren unter falschen Namen eine Existenz aufbauen.
Eines Tages muss er diese abrupt aufgeben, als er erfährt, dass er wieder gesucht wird. Paraguay und Brasilien werden die letzten Stationen Mengeles. Erst Mitte der 1980er Jahre wird sein Tod publik, seine sterblichen Überreste werden obduziert und identifiziert.
Zeichner Jörg Mailliet („Gleisdreieck“, „RRWB“), der 1970 in Toulon geboren wurde und in Berlin aufwuchs, zeichnet Mengeles Nachkriegsleben als tropisches Versteckspiel in expressivem, leicht zittrigem Strich, der gut zum gehetzten Dasein des Kriegsverbrechers passt, und taucht die Graphic Novel in düstere, bräunliche Farben.
Matz und Mailliet tauchen tief in die labile Psyche eines Nazis ein, der immer paranoider wird und zugleich nie Reue zeigt. Mengele erstickt als alter Mann fast in Selbstmitleid und versucht ein gutes Verhältnis zu seinem in Deutschland lebenden Sohn Rolf aufzubauen, der sich jedoch – wohl als einziger in Josef Mengeles Verwandtschaft – für die Taten seines Vaters zutiefst schämt.
Mengeles Verbrechen in Auschwitz werden in einigen Rückblicken in der Graphic Novel nur angedeutet, sodass sich das Grauen hauptsächlich im Kopf der Leserinnen und Leser abspielt.
Die Charaktere sind bisweilen etwas hölzern geraten, während die Dialoge zum Teil vor klischeehaften Phrasen aus der Nazi-Jargon-Kiste strotzen.
Die Gefahr einer Identifikation der Leserinnen und Leser mit dem Protagonisten – einem der monströsesten Nazi-Verbrecher – wird jedoch erfolgreich umgangen, so erbärmlich ist Mengele selbst gezeichnet.
So kann „Das Verschwinden des Josef Mengele“ auch als Graphic Novel dazu beitragen, dass die Faszination des Bösen, die vom Typus des emotionslosen Wissenschaftlers und Massenmörders lange ausging, durch eine realistische, faktentreue Darstellung ersetzt wird – und so allmählich ihren abstoßenden Reiz verliert.