„Das Pferd im Brunnen“ von Valery Tscheplanowa: Lieben und Sterben in Kasan
Als Krankenschwester hat Nina gelernt, die Zeichen des Todes zu erkennen, nun beobachtet sie den Verfall an sich selbst. Ihre Haut erinnert an dickes Papier, das Herz schlägt zu laut, die Fingernägel splittern wie rissiges Holz. Im Hospital bittet sie um einen Kamm und einen Lippenstift, macht sich zurecht, legt sich aufs Bett, schenkt einem Begleiter noch ein Lächeln und atmet durch ihre roten Lippen ein letztes Mal aus. Die Erzählerin protokolliert akribisch, was dann mit ihrer Großmutter passiert, wie ihre Muskeln zerfallen, die Zellen der Lunge absterben, der Darm sich selbst zersetzt. Und wie sich dann, Monate später, das Skelett im Grab krümmt, bis es unter der Erde liegt wie ein Embryo im Bauch der Mutter.
Es sind die Kreisläufe des Lebens, die Valery Tscheplanowa in ihrem autobiografisch inspirierten Romandebüt „Das Pferd im Brunnen“ interessieren. In kurzen Kapiteln, für sich genommen kleine Prosa-Stücke, erzählt sie vom Lieben und Sterben dreier Generationen im russischen Kasan. Hier wurde 1980 auch die Autorin geboren.
Kurz vor dem Mauerfall migrierte sie mit ihrer Mutter nach Deutschland, studierte zunächst Tanz, dann Schauspiel an der Berliner Ernst-Busch-Schule. Seither arbeitet sie mit großen Regisseuren wie Dimiter Gotscheff, Jürgen Gosch, Frank Castorf oder Ulrich Rasche zusammen. Ihre Bühnenpräsenz zeichnet eine präzise Körperlichkeit ebenso wie eine sensible Sprache aus. Mit ihrem Roman wendet sie diese Qualitäten nun auf die Literatur an.
Im Zentrum stehen die Leiber einer Familie. Die Erzählerin berichtet von ihrer zähen Urgroßmutter Tanja, die von Jugend an ihre Haare sammelte, um ihr Totenkissen damit auszustopfen. Vom enormen Bauch ihres Großvaters Jura, der seinen Zorn mit Brot und Butter befriedete und als sanfter Mann seinem Übergewicht erlag. Und von Großmutter Nina natürlich, die stolz und unerschütterlich die Welt durchschritt, „auf hohen Absätzen mit strammen Fesseln, die kleinen Brüste stets frech nach vorn gestreckt, laut und zornig und so charmant mit ihren kleinen, flachen Zähnchen lächelnd“.
Frömmigkeit, doch kein Requiem
Kein Requiem ist dieses Buch, vielmehr vergewissert sich die Erzählerin ihres Erbes. Am Ende bezieht sie Ninas verlassene Wohnung auf dem Land, brät wie sie Kartoffeln, unternimmt wie sie Spaziergänge, liest wie sie die Zeichen des Alters im Gesicht. „Wenn ich in den Spiegel sehe, erkenne ich unter meiner Haut ihre Haut. Sie hat sich in mich verwandelt, ich erzähle sie weiter, bin ihr Echo.“ Das Wort und das Fleisch fallen in dieser Prosa in eins, etwas Religiöses eignet Tscheplanowas Poetik.
Gerade erst stand sie als Nathan der Weise bei den Salzburger Festspielen auf der Bühne, also als eine Figur, die auf die Gleichwertigkeit der Glaubensrichtungen pocht. Die Frömmigkeit dieses Romans ist dagegen deutlich zwingender, dringlicher. In den Wohnungen der Figuren hängen Ikonen an den Wänden, die berühmte Gottesmutter von Kasan hat einen Ehrenplatz. Ikonen sind Repräsentationen christlicher Wahrheiten, ihre theologische Begründung basiert auf Gottes Menschwerdung. In den Erzählungen folgen Tanja, Nina und Jura nun Jesus nach, auch sie sind Ikonen, zwar aus Wörtern und nicht aus Farbe geschaffen, und doch Ikonen. Die Erzählerin pflegt ein mystisches Verhältnis zu ihnen, sie belebt sie und weckt ihr Fleisch noch einmal auf, woraufhin sie ihr Wahrheiten über das Leben eröffnen.
Glück ist dabei kaum zu finden, oder zumindest nicht die Erfüllung des Heilsversprechens, das Lena, die Mutter der Erzählerin, in den Westen zog – der Wunsch, es einmal besser zu haben. In diesem Kasan vor und nach dem Zerfall der Sowjetunion, das Tscheplanowa zeichnet, verbringt man seine Tage mit Arbeit, zieht Tomaten und Radieschen, trinkt Tee, liebt sich, solange es geht, und vermisst sich die längste Zeit danach. Politik findet nur am Rande statt, vor allem im Fernsehprogramm. Es ist letztlich gleichgültig, in welchem System man sich durchschlägt.
Mehr Gegenwart
Kann, oder vielmehr: Sollte man heute so von Russland erzählen? An einer Stelle heißt es durchaus kritisch: „Manchmal scheint es, als dürfte nur ein winziger Teil der russischen Bevölkerung in der Gegenwart leben, der Rest ist verdammt dazu, einen sozialistischen Schwarz-Weiß-Film zu bewohnen.“ Die Erzählerin macht diese Apathie aber zugleich niemandem zum Vorwurf, sie ehrt die Lebensweise der einfachen Leute, wählt sich Kasan gar zum Sehnsuchtsziel, tritt eine weite Heimreise in Land und Haut der Großmutter an.
Um der Hauptfigur Nina gerecht zu werden, spart dieser Roman also einiges bereitwillig aus, nicht zuletzt die jüngsten Entwicklungen der russischen Geschichte. Wenn man diesem stilistisch und erzählerisch beeindruckenden Debüt also einen Vorwurf machen wollte, dann diesen: Ein wenig mehr Gegenwart hätte nicht nur den Menschen, sondern auch dem Buch gutgetan.