Drinnen ich, draußen nichts
Ein böiger Aprilwind weht über den Elsensteg in Neukölln. Der Frühling droht direkt in den Herbst überzugehen. Mit Mantel und Chelsea Boots hat sich Andreas Spechtl für den gemeinsamen Spaziergang gewappnet. Im Gehen will der Sänger von Ja, Panik plaudern, endlich mal weg vom Bildschirm. Wobei es eher ein gemeinsames Schleichen am Kanal entlang wird. Achtsam wie er seine Worte wählt, setzt Spechtl seine Schritte.
Sieben Jahre ist es her, dass Ja, Panik ein letztes musikalisches Lebenszeichen sendeten. 2014 erschien das utopisch-hoffnungsvolle Pop-Album „Libertatia“. Dann gab es noch das kollektiv verfasste Buch „Futur II“. Kritiker und Fans lasen es als eine Art Abschiedsmanifest. Im 15. Jahr des Bestehens veröffentlicht die Band nun also doch das sechste Album: „Die Gruppe“ (erschienen bei Bureau B).
2005 gründeten sich Ja,Panik in Wien. Damals spielten sie schrammligen Indierock mit Klaviereinsprengseln. Ihre Songs waren stets klug und offenbarten ein Gespür für große Melodien. Gemeinsam siedelte man nach Berlin über, lebte in einer WG. „Die Gruppe“ ist nun auch eine Proklamation der Abgrenzung gegen das überkommene Bandkonzept. Zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts waren Ja, Panik hochgelobte und preisgekrönte Kritikerlieblinge. Davon, wie man sich das mit dem Bandleben mal ausgemalt hatte, hätte sich aber erschreckend wenig eingelöst, berichtet Spechtl, heute Mittdreißiger mit grauen Strähnen im dunklen Haar. Nie habe man wirklich kontemplative Momente erlebt. „Die zwei Platten, die wir seit 2014 nicht gemacht haben, waren für die Langlebigkeit von Ja, Panik existenziell.“
Das Joch der Verwertbarkeit war abgestreift
Nach all den Jahren konnte es so wieder ein befreites Aufeinandertreffen geben. Das Joch der Verwertbarkeit war abgestreift, alle Gruppenmitglieder hatten unabhängig weitergemacht, neue Jobs gefunden. Spechtl selbst veröffentlichte zwei Soloplatten, produzierte und musizierte mit Christiane Rösinger und Die Türen. Nebenbei füllten sich seine Notizbücher. Bei einer Inventur stellte er fest, dass er wieder Ja, Panik-Texte verfasste. Warum also nicht noch mal in die Rolle des „Kanzlers“ schlüpfen, wie die Mitmusiker ihren Sänger einst liebevoll nannten?
Da nicht mehr alle in Berlin lebten, zog sich die Termin- und Ortssuche lange hin. An dem Tag als die Gruppe im Frühjahr 2020 im Studio zusammentreffen wollte, rief Österreich den Lockdown aus. Was sich zunächst wie ein Schienbeintritt des Schicksals anfühlte, entpuppte sich als künstlerisches Glück: ein Zeitgeschenk.
Spechtl nennt „Die Gruppe“ die „dunkle Schwester“ des Vorgängeralbums. Dominierten bei „Libertatia“ noch leichtfüßige, gar tanzbare Protestsongs, sind es nun dräuende Synthesizersounds. Ein mäandernder elektronischer Klangfluss, dessen Sog man sich in den ersten Liedern überantworten muss.
„Wir machen tausend Konzepte, sind total steif am Anfang“, erklärt Spechtl, „erst im Laufe der Arbeit brechen wir aus.“ Beinahe glaubt man beim Hören diesem Prozess beiwohnen zu können. Dann lassen sich befreiende Momente der Entladung entdecken, wie das eruptive Saxofonspiel von Gastmusikerin Rabea Erradi. Die Basis ist Technik, dadrüber darf es menscheln. Nicht bloß ein ästhetischer Standpunkt. Frei nach Herbert Marcuse: der spielende Mensch löst sich durch die Maschine von Routinen – und muss doch stets die Janusköpfigkeit des Fortschritts reflektieren. Barbarei oder Emanzipation? „Apocalypse or Revolution“, heißt ein weiter Song auf dem Album.
„Es befreit mich, wenn ich das Dunkle von mir wegschreibe“
Es ist die erste Veröffentlichung von Ja, Panik, bei der Spechtl ein Smartphone besitzt. Beinahe widerwillig pflückt er es aus der Tasche. Wenig inspirierend sei es, auf demselben Gerät Songskizzen aufzunehmen, Texte einzutippen und die Steuererklärung zu empfangen. Darum pflegt er weiter seine Textheftchen. In „1998“ spürt man den Aufruhr des jungen Andreas, der im ländlichen Burgenland das erste Mal mit dem Internet in Berührung kam. „There was a crack in the world / And I tried to slip in.“ Zufluchtsort und Pforte zur Hölle zugleich.
„Es befreit mich, wenn ich das Dunkle von mir wegschreibe“, erklärt der Sänger die Schwere des Albums. „Die Veröffentlichung einer Platte hat mir immer mehr gebracht als jede Psychotherapie.“ Bei „Libertatia“ habe er hingegen so lange Positivität in Tonspuren gebannt, bis vom utopischen Überschuss nur noch wenig im echten Leben blieb.
Am Neuköllner Schifffahrtskanal, zwischen Schwänen, Mandarinenten und Zigarettenqualm, lässt sich die Pandemie an diesem Nachmittag beinahe vergessen. Auf „Die Gruppe“ scheint sie jedoch allgegenwärtig. „Drinnen ich / Draußen nichts“ heißt es im betörenden „On Livestream“. Doch die Texte schrieb Spechtl lange zuvor. Es war der Weltenlauf, der seine Poesie einholte. Schon bei einem Aufenthalt im Iran erlebte er 2017 das nun so vertraute Bild: Soziales findet drinnen statt. Das Außen ist Feindesland. Die Verbindung zur Welt der Bildschirm. Das rücke die Gegenwart auch in ein anderes Licht: „Was bedeutet für uns schon Lockdown? Wie viele Leute auf der Welt leben nicht viel länger schon in Apokalypsen?“
Radikalität bewahren. Renitent bleiben.
Zu Beginn der Pandemie war oft von einem Brandbeschleuniger die Rede, von einem Brennglas, das die Verwerfungen des Wirtschaftssystems offenlege: Das kaputtgesparte Gesundheitssystem. Der Pflegenotstand. Die globale Ungerechtigkeit. Manche glaubten gar, die durchrationalisierte Welt heile an einer Krankheit. Dem stellt Spechtl im Song „The Cure“ die Konsolidierung der Verhältnisse entgegen. Bis der Chor am Ende einstimmt: „The only cure from capitalism / Is more / more more / more capitalism.“
Ist Homeoffice am Ende doch nur eine weitere Landnahme der Arbeit im Privatleben? „Heute gehen Corona-Leugner auf die Straße gegen die Vereinzelung im Lockdown. Dabei leben wir doch schon lange in der Vereinzelung.“ Es ist das wiederkehrende, zentrale Motiv von Ja, Panik: das Leiden des Subjekts im Kapitalismus, das es zu überwinden gilt. An dieser Überzeugung habe sich seit er 20 war wenig verändert, sagt Spechtl. Er will sich die Radikalität bewahren. Renitent bleiben.
Eine K-Gruppe Ja, Panik ist trotzdem nicht zu befürchten. Wo viele Antworten geboten, aber wenige Fragen gestellt werden, ist die demonstrative Verletzlichkeit von „Die Gruppe“ ein wundervoll-zärtlicher Gegenentwurf. Ein Nagen an den falschen Gewissheiten des Alltags. Ein Spagat, der kaum besser in diese Zeit passen könnte: das imaginäre Weltenbauen im Bewusstsein des Nichtmehraushaltenkönnens. So sagt es Andreas Spechtl, drückt seine Zigarette aus und eilt auch schon zum nächsten Pressegespräch. Zurück vor den Bildschirm.