Heilig im eigenen Schein
Ein geisterhaftes Spiel, zwischen Ort und Zeit. Am 30. Januar 1932 findet im Nationaltheater Weimar die Premiere des Dramas „Hundert Tage“ statt; es handelt von Napoleon Bonaparte und seinem Versuch, nach der Flucht aus der Verbannung auf Elba und der erneuten Machtergreifung in Paris noch einmal sein altes Kaiserreich zurückzuerobern. Bis zum Finale am 18. Juni 1815 auf dem Schlachtfeld von Waterloo.
Autor der „Hundert Tage“ ist Benito Mussolini, der Diktator Italiens. In der Premiere sitzt ein Bewunderer Napoleons und Mussolinis: Adolf Hitler. Auf den Tag ein Jahr später wird er die in just diesem Theater getaufte Weimarer Republik, Deutschlands erste Demokratie, in Berlin mit seiner Machtergreifung beenden.
Am 5. Mai, dem 200. Todestag Napoleon Bonapartes, hat nun Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Paris eine Gedenkrede gehalten – unter der Kuppel des Institut de France, der zu Zeiten der Französischen Revolution gegründeten Dachorganisation aller bedeutenden wissenschaftlichen und künstlerischen Akademien des Landes. Auch Napoleon war einst ihr Ehrenmitglied. Zudem hat Macron, der sich zu Beginn seiner Präsidentschaft unter anderem auf Charles de Gaulle und auch auf Napoleon berufen hat, einen Kranz am Grabmal des Kaisers im Pariser Invalidendom abgelegt. Aus dem Élysée-Palast war vorab schon zu hören, es gehe um Respekt, nicht um „Reue“. Weder um Glorifizierung noch um „Verleugnung“.
Die Feierfreudigen spüren Gegenwind
Gegen die Verehrung von falscher Seite, gegen historische Peinlichkeiten wie den von aller Öffentlichkeit abgeschirmten Kurzbesuch Hitlers 1940 im kriegsbesetzten Paris, der ihn gleichfalls in den Invalidendom vor den Katafalk des Kaisers geführt hatte, musste Macron sich jetzt nicht eigens wehren. Trotz einiger Kritik an Napoleons eigenen Kriegen überwog aber die Ehrerbietung, mit der Macron wohl auch den französischen Konservativen mit Blick auf Marine Le Pen etwas Wind aus den rechten Segeln nehmen wollte.
Allerdings stehen die aus Anlass der „Zweihundertjahrfeier“ an zahlreichen Orten geplanten Ausstellungen, Konferenzen, Konzerte und Aufführungen – mit dem Hauptschauplatz Schloss Fontainbleau, dem einstigen Wohnsitz Napoleons – wegen der Corona-Beschränkungen unter Vorbehalt. Doch spüren die Feierfreudigen noch weiteren Gegenwind.
So wird während der aktuellen Rassismusdebatten verstärkt daran erinnert, dass Napoleon 1802 als Erster Konsul, zwei Jahre vor seiner Selbstkrönung zum Kaiser, die im Zuge der Französischen Revolution proklamierte Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien wieder rückgängig machte. Wobei er einem Wunsch seiner ersten Gemahlin Joséphine entsprach, deren Familie Ländereien und schwarze Sklaven auf Martinique besaß.
Aber ob Frauen oder ob Frankreich, Bonaparte liebte und handelte vor allem aus Selbstliebe und Berechnung. Was jetzt Élisabeth Moreno, Präsident Macrons afro-französische Ministerin für die Gleichstellung von Frauen und Männern, zu einer Doppelspitze veranlasste: Der für die Wiedereinführung der Sklaverei verantwortliche Napoleon sei zugleich „un de plus grand misogyn“, einer der größten Frauenverächter gewesen. Das zielt auf den Ruf des „Frauenhelden“, der die Legende jenseits des Militärischen und Politischen garniert.
Tatsächlich ist der alle Einwände überdauernde Ruhm des 1769 geborenen Korsen, der als Schulkind und dann Kadett früh aufs Festland kam und mit 26 Jahren General, mit 30 Diktator und mit 34 Jahren Kaiser wurde, erstaunlich. Um dieses offene Rätsel kreisen weltweit unzählige Bücher, und Johannes Willms, der akribischste aller neueren deutschen Bonaparte-Biografen, hat nach seiner bei C. H. Beck erschienenen fast tausendseitigen Lebensbeschreibung auch noch bei Klett-Cotta den thematisch einschlägigen Band „Der Mythos Napoleon“ folgen lassen, Untertitel: „Verheißung, Verbannung, Verklärung“.
Das Buchcover ziert dabei ausnahmsweise kein Konterfei des Kaisers, sondern sein schwarzer Dreispitz, geschmückt mit der tricolorierten Kokarde. Eher unkritisch wie eine Devotionalie präsentiert auch das Deutsche Historische Museum in Berlin solch einen kaiserlichen Kopfputz, der, soweit als Original erweisbar, auf Auktionen für mehrere Millionen Euro gehandelt wird.
Den Regenten Europas entfuhr ein Seufzer bei Napoleons Tod
Mit seinem von Spanien bis Russland, von Neapel bis Hamburg kriegerisch ausgreifenden Herrschaftsdrang war Napoleon im brennenden Moskau und dann im einbrechenden russischen Winter bereits gescheitert. Als dann die Reste seiner Grande Armee 1813 in der „Völkerschlacht“ von Leipzig besiegt wurden und Napoleons späteres Waterloo zum Sinnbild des geschlagenen Größenwahns avancierte, schien der abgedankte Imperator bald nur noch Vergangenheit zu sein.
Napoleons rastlose Feldzüge hatten Millionen Tote und Versehrte hinterlassen, die eigentlich schwerer wogen als etwa seine Reformen in Bürokratie und Recht. Nachdem er am 5. Mai 1821, mit erst 51 Jahren, auf dem südatlantisch fernen, unter britischer Verwaltung stehenden Eiland St. Helena an Magenkrebs gestorben war, entfuhren den seit dem Wiener Kongress und Metternichs neofeudalem Rollback wieder recht ungestört herrschenden Regenten Europas erstmal nur ein paar stille Seufzer der Erleichterung.
Doch als Napoleons Gebeine 1840 mit Zustimmung Englands nach Frankreich überführt und zu den Klängen von Mozarts Requiem im Invalidendom beigesetzt wurde, säumten Hunderttausend die Pariser Straßen, und viele riefen wieder „Vive l’empereur!“.
Für seinen blendenden Glorienschein zu Lebzeiten wie auch vor seinem Tod schon für seinen Nachruhm hatte Napoleon mit einer Begabung gesorgt, die sogar sein militärstrategisches Geschick übertraf. Napoleon war im Grunde der Erfinder der modernen politischen Propaganda und ein Meister der Fake News.
Er war ein Meister der Selbstinszenierung
Neben etwa 60 000 zumeist diktierten Briefen hat Napoleon sich auch in Essays, Traktaten, Pamphleten, sogar im Entwurf eines Liebesromans schriftstellerisch geübt. Auch in seinen Kriegsberichten fälschte und verklärte er, machte aus halben Niederlagen volle Siege, aus Verlusten noch fabelhaften Gewinn. Seinen kühnen Italienfeldzug 1796/97 ließ er von einer teils selbstgeschriebenen eigenen Armee-Zeitung bejubeln.
Bei der danach mit knapp 40 000 Soldaten startenden Expedition nach Ägypten und in den Nahen Osten ließ er sich PR-bewusst von über 150 Wissenschaftlern, Archäologen, Ingenieuren und Künstlern begleiten. Es gab im Land der Pharaonen neben Kunstraub auch Entdeckungen wie 1799 die des berühmten „Steins von Rosetta“, auf dem Jean-Louis Champollion später die Entzifferung der Hieroglyphenschrift gelang.
Nach Paris an das regierende Direktorium meldete Napoleon kaum die verheerenden Strapazen seiner mit arabischen und osmanischen Verbänden, mit Wüstenhitze, Krankheiten und schlechter Versorgung kämpfenden Truppen. Sondern strahlende Siege wie in der „Bataille des Pyramides“.
Zwar waren die Pyramiden vom Ort der Schlacht gegen das Mamelukenheer des Emirs Murad Bey einen Tagesmarsch entfernt, aber Napoleon will seine Soldaten mit den legendären Worten „Vier Jahrtausende sehen auf euch herab!“ angefeuert haben. Und das in Kunstdrucken vervielfältigte Pyramiden-Schlachtgemälde, das Francois-Louis Watteau, ein Nachfahre des berühmteren Barockmalers Antoine Watteau, entwarf, sollte die Legende verewigen.
Er lässt sich in Öl malen, als Messias
Überhaupt nutzt Napoleon die Auftragskunst für seine seine auratischen Abbilder, vom fahnenschwenkenden jungen Heros bis zum Kaiser mit der Hand in der Weste. Beim Ägyptenfeldzug macht seine Eigenpropaganda so auch Entsetzliches früh vergessen: die Vernichtung eines Großteils seiner Flotte vor Abakir (durch Englands Admiral Nelson), furchtbare, rassistische Grausamkeiten an geköpften und massakrierten Einheimischen, die befohlene Ermordung von 2000 wehrlosen Gefangenen im palästinensischen Jaffa (beim heutigen Tel Aviv). Stattdessen lässt sich Napoleon von Antoine-Jean Gros als Messias malen: wie er in Jaffa ein Lazarett mit Pestkranken besucht und einem Leidenden seine Hand auflegt. Auch hiervon zirkulieren dann Drucke wie Heiligenbilder in ganz Europa.
Tatsächlich haben den Kriegsherrn, der selbst den Tod nie fürchtete, die Leiden anderer wenig geschert. Bevor er nach der Niederlage Preußens am 27. Oktober 1806 durchs Brandenburger Tor einzieht, hat er noch dekretiert, dass alle zuvor verwundeten eigenen Soldaten im Lazarett in der Festung Spandau zu verbleiben hätten, er wolle in Berlin keine Verletzten und Krüppel sehen.
Unter der Quadriga, die er dann nach Paris verschleppen lässt, reitet er, von Charles Meynier gemalt, inmitten seiner prächtig dekorierten Marschälle ein: im einfachen Feldrock, ohne Orden – und fällt dadurch erst richtig auf. Ein Habitus, den auch Hitler später imitieren wird.
Sein “Code civil” hat nachhaltige Wirkung entfaltet
Ingeniös hat sich Napoleon zudem immer als führender „Europäer“ stilisiert, bis hin zu seinen auf St. Helena diktierten Memoiren, mit denen er seinen sich alsbald verbreitenden Nachruhm befördert. Und nachgewirkt haben immerhin einige seiner autokratischen Reformen, vor allem der „Code civil“, mit dem er feudale Eigentumsordnung durch bürgerliches Recht ersetzte und Juden erstmals allen anderen Religionsgruppen gleichstellte. Je mehr nach seinem Abgang in Europa das reaktionäre Metternich-System neue Unterdrückung schafft, wächst so über alle Leichenberge hinweg die Napoleon-Nostalgie. Der einstige Gewaltherrscher erscheint nun als tragischer Held. Wie seine Vorbilder Alexander der Große und Caesar.
Napoleon bewunderte auch Friedrich den Großen. Er nimmt dessen Degen aus Sanssouci mit und bewahrt Friedrichs Taschenuhr noch auf St. Helena. Alexander von Humboldt, den Gleichaltrigen, der in Paris sehr gefeiert wird, lässt der kommende Kaiser dagegen geheimdienstlich überwachen und bescheidet ihn 1804 bei einem Treffen sarkastisch: „Sie beschäftigen sich mit Botanik? Genau wie meine Frau!“
Der Napoleon-Stummfilm schreibt Kinogeschichte
Goethes „Werther“ hatte der junge Napoleon mit Begeisterung gelesen, und die Fürsten der Dichtung und der Welt wertschätzen sich bei zwei Begegnungen in Erfurt und Weimar. Für Hegel ist Napoleon der reitende Weltgeist, der junge Heine sieht ihn andächtig, der Dramatiker Grabbe entwirft hundert Jahre vor Mussolinis gleichnamigem Stück bereits ein „Hundert Tage“-Historientheater, und tausend Bücher folgen. In Frankreich wird das Stummfilmepos „Napoleon“ in den 1920er Jahren gar zu einem Meisterwerk der Kinogeschichte. Die Geschwister Scholl dagegen erinnern in ihrem Münchner Flugblatt gegen die Hitler-Diktatur 1943 an 1813 und den Widerstand gegen die „napoleonische Tyrannei“.
Bénédicte Savoy, die Berliner Humboldt-Professorin und Expertin für die Geschichte der Raubkunst, hat übrigens schon vor zehn Jahren als Kuratorin einer von Bundeskanzlerin Merkel und dem damaligen Präsidenten Sarkozy eröffneten Napoleon-Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle auch das heute so aktuelle Thema geraubter Kunstschätze als Versuche „geraubter Erinnerung“ thematisiert.
Um Erinnerung und entwendete, verfremdete, verklärte Geschichte geht es nun auch bei der Zweihundertjahrfeier. Wegen der Pandemie und dem Tod des Künstlers Christo im vergangenen Jahr wurde dessen geplante Verhüllung des Pariser Arc de Triomphe auf den kommenden September verschoben. Der von Napoleon einst in Auftrag gegebene Triumphbogen galt der Verherrlichung seiner Kriege und Siege. Nun aber könnte die Verhüllung des Denkmals, für die ab nächste Woche Volontäre gesucht werden, auch der symbolisch vieldeutigste Beitrag zu diesem Jubiläum werden.