Ein bisschen Picasso, ein bisschen Disney
Als Julia Wallner vor acht Jahren, bei ihrem Amtsantritt als Direktorin des Berliner Georg-Kolbe-Museums gefragt wurde, welchen zeitgenössischen Künstler sie denn am liebsten ausstellen würde, antwortete sie ohne zu zögern: Thomas Schütte, der wichtigste, auch hochpreisigste deutsche Bildhauer. Das wäre ein Traum. Corona hat der neuen Chefin in die Hände gespielt. Die für diesen Herbst im New Yorker Museum of Modern Art geplante Schütte-Retrospektive wurde verschoben, der Künstler hatte auf einmal Kapazitäten frei und gab sofort seine Zustimmung auf die Anfrage aus Berlin, ja wäre am liebsten noch schneller gekommen als geplant.
Eine Zusage konnte der 62-jährige Bildhauer auch deshalb so leicht geben, weil er der einzige Leihgeber der Ausstellung im Kolbe-Museum ist, die nun ebenfalls sein gesamtes Schaffen umfasst – nur auf weniger Quadratmetern als in New York. Seine sämtlichen Werke – wenn nicht in Museen oder bei Privatsammlern – befinden sich gestapelt, sortiert und in Kisten verpackt im Depot seiner vor fünf Jahren in Neuss eröffneten Skulpturenhalle. Von dort bringt sie ein Sattelschlepper mit Spezialkran wohin auch immer.
Der Experte für knifflige Transporte sitzt gleich mit am Steuer und hievt dann die tonnenschweren Skulpturen über die Zäune und Mauern der Ausstellungshäuser hinweg. Vor dem Kolbe-Museum steht nun zur Begrüßung „Vater Staat“, eine meterhohe armlose bronzene Eminenz, gehüllt in einen Bademantel mit einer Kopfbedeckung, die einer Schlafmütze gleicht. Keine Witzfigur, kein dummer Michel trotz Mütze, sondern eine Respekt gebietende Erscheinung, die merkwürdig versehrt aussieht, bei aller Größe machtlos wirkt. Die Skulptur sei bei der Aufstellung regelrecht „eingerastet“, begeistert sich Wallner. Georg Kolbe und Thomas Schütte, das passt offensichtlich zusammen.
Das Wunder ist geschehen. Die Direktorin des kleinen, feinen Museums im Westend hat mit der schlicht „Thomas Schütte“ überschriebenen Präsentation eine der schönsten Ausstellungen des Winters in Berlin bekommen. Der Bildhauer bevorzugt ohnehin intimere Orte. Die neuen Museen sähen doch alle wie Flughäfen aus, sagt er, die interessierten ihn nicht. Und der Gropius-Bau sei ihm viel zu groß. Die Neue Nationalgalerie allerdings, bei der er vor etlichen Jahren angeklopfte, habe nie geantwortet. Das ärgert ihn offensichtlich noch immer.
Die „Sensburg“ wird zum Raumschiff
Selber schuld, möchte man sagen, dann findet die großartige Schau des bedeutendsten figurativen Bildhauers eben an der Peripherie statt. Dabei erlebt das backsteinerne Haus eine Transformation. Georg Kolbe hatte sich sein Wohnatelier 1928 am Rande der Stadt im Stil des Neuen Bauens errichten lassen – sachlich, kubisch, roter Klinker interagiert mit dem Grün des Gartens. Die hohen Mauern sollten vor neugierigen Blicken schützen, denn Kolbe nutzte den Garten zur Aufstellung seiner Skulpturen, darunter viele Akte. Schütte fügt sich perfekt in den Ort, das Figurative seines Werks, die klassische Bronze ruft Traditionen eines Kolbe ab und ist doch ganz zeitgenössisch. Die „Sensburg“, wie Kolbe sein Haus nannte, wird zum Raumschiff.
Wenn „Vater Staat“ der Flugkapitän dieser Reise ist, dann sind die vier auf einer Gartenmauer aufgereihten „Wichte“ das Bordpersonal. Die Büsten verknautschter alter Männer knüpfen an Ahnengalerien an und demontieren sie zugleich. Ob Porträt oder ganzfigurig, sogar Akt – der Künstler arbeitet sich seit seinem Studium an der Düsseldorfer Akademie bei Fritz Schwegler und Gerhard Richter am Menschenbild ab und das auf eine ebenso unverfrorene wie geniale Art. So haut er seinen Figuren auch mal mit der Faust auf den Tonkopf, damit sie ihr Aussehen ändern und ihn selbst überraschen.
Schütte war immer schon Einzelgänger. Allen Trends und dem unausgesprochenen Gesetz zum Trotz, dass Skulptur heute abstrakt oder installativ zu sein habe, ist er seit seinem Auftritt 1981 bei Kasper Königs „Westkunst“ in den Kölner Messehallen bei der Gegenständlichkeit geblieben. Und damit ihm nicht langweilig wird, wie er erklärt („ich muss mich ja unterhalten“), setzt er die verschiedensten Materialien ein: Bronze, Keramik, Ton, Glas, Schichtholz, Fimo.
Die Stadt ödete Schütte in den Neunzigern an
So empfängt den Besucher im Entree eine weitere Galerie alter Männer, „Old Friends Revisited“. Die Glatzköpfe mit runzliger Stirn und Doppelkinn in Gelb, Rot, Violett und Türkis wirken erstaunlich cool durch ihre quietschbunte Farbigkeit, die glänzende Oberfläche der glasierten Keramik. Sympathischer macht sie das nicht. Die Kerle gehen zurück auf die Werkreihe „United Enemies“, mit der Schütte Anfang der 1990er Jahre als Stipendiat der Villa Massimo in Rom begann. Die Stadt ödete ihn damals an, erst ganz zum Schluss ging er in die Vatikanischen Museen, und da passierte es.
Bei den Büsten der Päpste sprang der Funke über, entdeckte er doch eine Verbindung zu den Protagonisten des damals Italien erschütternden Korruptionsskandals, die er in seinen karikaturhaften Porträtzeichnungen, den „Criminali“, bereits festgehalten hatte. Für die Umsetzung ins Dreidimensionale nahm sich der Bildhauer, was er fand, formte die faustgroßen Köpfe aus der Kinderknetmasse Fimo und brannte sie in seinem Ofen. Die Holzstäbe, auf denen sie während des Brennvorgang standen, ließ er als Dreibeine stecken, umwickelte sie nur mit Fetzen seiner Hemden und Pyjamas. Manchmal umklammern sich zwei, wie unter einer Decke. Bis heute gehören die „United Enemies“ zu seinen magischsten Figuren. Die Miniaturköpfe strahlen eine ungebrochene Verschlagenheit aus und strotzen nur so vor Kraft wie Totems.
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Frauenakte – geht das heutzutage noch?
Gerade das fasziniert an Schüttes Werk: dass er sich verpönte Gattungen angstfrei wieder vornimmt. Frauenakte etwa – geht das heutzutage noch? Der Düsseldorfer Bildhauer macht es einfach, allerdings nicht nach Modell wie zu Kolbes Zeiten. Zunächst produziert er Tonmodelle, ceramic sketches, in denen wie von selbst bekannte Figuren der Kunstgeschichte auftauchen. Die dreidimensionalen Skizzen verdichtet er dann, übernimmt einzelne Formen, sodass im vergrößerten Werk ein Picasso-Gesicht, Walt-Disney-Arme und ein Matisse-Körper erscheinen können. Um das präzise Porträt, Genauigkeit nach dem Vorbild, geht es nicht, sondern um den Prozess, der bestimmte Typen, Figurationen hervorbringt.
Die gleiche Methode wendet der Bildhauer auch bei seinen Architekturmodellen an, die das Untergeschoss der Ausstellungshalle im Kolbe-Museum füllen. Ein Spaßvogel scheint am Werk zu sein, Schütte schüttelt die verschiedenen Bauformen der Moderne einfach durcheinander und entwickelt daraus die verrücktesten Modelle: ein Teehaus, das wie eine Laterne aussieht, ein Bootshaus, das sich wie eine Klappe nach vorne öffnet, eine Bibliothek, deren Wände aus Bücherregalen besteht. Und schließlich seine Neusser Skulpturenhalle, deren Dach einem Kartoffelchip nachempfunden ist.
Das realisierte Werk steht auf dem Gelände der ehemaligen Raketenstation, gleich neben dem von Tadao Ando entworfenen Museum der Langen-Foundation; auf der anderen Seite der Bundesstraße liegt inmitten einer Erftaue das Museum Insel Hombroich mit Erwin Heerichs minimalistischen Pavillons. Schüttes kühner Wurf hält den großen Namen der Architekturwelt stand. Seine Entwürfe sind bei Sammlern für ihre Sommerhäuser inzwischen hochbegehrt. Der Künstler verlangt nur die Übernahme der Anreise, Kost und Logis, mehr nicht. Die größte Schwierigkeit stellte bisher der Naturschutz dar, berichtet er, denn die Sammler bevorzugten exquisite Lagen.
Dass er von der Anfrage des Kolbe-Museums gleich begeistert war, verwundert da nicht, denn Kolbe wirkte am Bau seines Atelierwohnhauses wesentlich mit. Das Wichtigste sei doch der Raum, sagt Schütte noch im Gespräch mit Julia Wallner, in den stellt man eben etwas rein. Sie reagiert gar nicht weiter auf die lockere Bemerkung, sondern lächelt nur sehr zufrieden. (Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25, bis 20. Februar)