Über die Schicksale hinter der Migration
Es hat an diesem Donnerstagmittag nicht an der schwedischen Aussprache gelegen, dass bei der Bekanntgabe des diesjährigen Trägers des Literaturnobelpreises durch einen Vertreter der Schwedischen Akademie Verständnisschwierigkeiten und Irritationen auftraten: Abdulrazak Gurnah ist ein Name, der im Literaturbetrieb nicht häufig fällt, im Grunde hierzulande unbekannt und sicher auch international vielen nicht auf Anhieb ein Begriff ist.
Mit ihrer Entscheidung für Gurnah hat die Schwedische Akademie nach der Preisvergabe im vergangenen Jahr an die ebenfalls alles andere als populäre amerikanische Lyrikerin Louise Glück einen erneuten, sehr überraschenden Aufschlag gemacht; viele Namen werden Jahr für Jahr genannt, es sind oft immer dieselben, der von Gurnah war nicht darunter.
Es scheint, als habe die Einsetzung des externen Gremiums mit einem Dutzend Experten für verschiedene Sprachräume sofort Früchte getragen, auch wenn Abdulrazak Gurnah im angloamerikanischen Sprachraum beheimatet ist, auf Englisch schreibt und in der Tradition eines V.S. Naipauls steht, der 2001 den Literaturnobelpreis verliehen bekam.
1948 als Sohn wohlhabender muslimische Eltern auf Sansibar geboren, einer zu Tansania gehörenden Inselgruppe vor der ostafrikanischen Küste, verbrachte Gurnah seine Kindheit zur Zeit der blutigen, bis 1964 dauernden Unabhängigkeitskämpfe und ging 1968 als Student nach England.
Die arabische und indische Welt sind ihm wichtig
Nach dem Studium der englischen Literatur wurde er Anfang der achtziger Jahre Dozent an einer nigerianischen Universität, um dann nach England zurückzukehren, an der University of Kent zu promovieren und dort ab Mitte der achtziger Jahre am Centre for Colonial und Postcolonial Research schließlich als Professor für postkoloniale Literatur zu arbeiten.
1987 wurde sein Debütroman „Memory of Departure“ veröffentlicht, und seitdem hat Abdulrazak Gurnah intensiv an einem Werk gearbeitet, in dessen Zentrum die Kolonialgeschichte des afrikanischen Kontinents sowie seine Migrationserfahrungen und die anderer Afrikaner stehen, speziell jener, die wie dieser Schriftsteller von Sansibar nach England emigriert sind.
In der Begründung der Schwedischen Akademie heißt es denn auch, dass ihm der Literaturnobelpreis primär verliehen wird „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Flüchtlingsschicksals in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“.
Interessant ist dabei, dass Gurnah dabei gar nicht so sehr auf die koloniale Geschichte Europas abzielt, sondern ihm die Verbundenheiten Ostafrikas mit der arabischen und indischen Welt wichtiger sind, er in seinen Büchern noch viel mehr Kulturen miteinander verwirbelt.
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
In einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ antwortete er 2001 auf eine diesbezügliche Frage: „Ich will der Vorstellung widersprechen, dass der europäische Kolonialismus Ostafrika von der Trägheit zur Zivilisation führte. Die Realität ist komplexer. Denn während Jahrhunderten fanden viele andere Interaktionen statt, die bis heute andauern. Ich stelle den Kolonialismus als eine Zerstörung dar – nicht von etwas Harmonischeren oder Besseren, doch von einer Wirklichkeit, die das Resultat von Verhandlungen zwischen verschiedenen Kulturen war. Üblicherweise wird dieser Aspekt in der Geschichtsschreibung übergangen.“
In einer Selbstauskunft für den „Guardian“ erzählte Gurnah, dass er, der mit Kiswahili als Erstsprache aufgewachsen ist, mit 21 Jahren auf Englisch zu schreiben begann, und dass in dieses Englisch nicht nur seine Erfahrungen aus Sansibar eingingen, sondern auch das, was er in der Koranschule, in den Moscheen, auf der Straße und durch seine, wie er es nennt „anarchische Lektüre“ gelernt hatte.
All das stand dem entgegen, so konstatiert er, was in der Schule gelehrt wurde. Es sollte ihm ihn Folge aber auch bei seiner Lehrtätigkeit und Literatur helfen „in Form widersprüchlicher Narrative als dynamischer Prozess“.
Abdulrazak Gurnah geht es um die Folgen kolonialer Herrschaft; um die Erkenntnis, dass ihre Beseitigung die Verhältnisse zwar äußerlich verändert, aber eben nicht immer zum Guten, Besseren – auch weil die Spuren des Kolonialen zu tief in die Gesellschaften und die Seelen der Menschen eingedrungen sind.
“Die Abtrünnigen” wurde zuletzt ins Deutsche übersetzt
Und es geht dem 73-jährigen stets um die Suche nach einer Identität zwischen diesen Kulturen und vor dem Hintergrund der kolonialen und postkolonialen Geschichte, nicht zuletzt darum, wie sich über das Erzählen von Geschichten ansatzweise eine Identität konstruieren lässt.
In seinem Roman „Die Abtrünnigen“, der 2005 veröffentlicht und ein Jahr später ins Deutsche übersetzt wurde, erzählt Abdulrazak Gurnah gleich zwei – scheinbar weit entfernte – Liebesgeschichten, in denen die kolonialen Verhältnisse und anschließenden postkolonialen Umwälzungen eine bedeutende Rolle spielen: die des britischen Orientalisten Martin Pearce, den es 1899 in das indische Viertel einer südkenianischen Küstenstadt verschlägt, nachdem er auf einer Jagdexpedition in der Wüste ausgeraubt worden war.
Pearce wird von einem einheimischen Händler aufgenommen, verliebt sich in dessen Schwester Rehana, wird Vater und zieht mit ihr ins benachbarte Mombasa. Das Scheitern dieser Beziehung, das merkt man bei der Lektüre sehr schnell, ist unausweichlich.
Die andere Liebesgeschichte ist zeitlich ein halbes Jahrhundert später angesiedelt. Sie handelt von dem Bruder des Ich-Erzählers Rashid, der wie Gurnah aus Sansibar stammt, in den sechziger Jahren nach England emigriert und Professor geworden ist. Der Bruder heißt Amin, und er verliebt sich in Jamila, die Enkelin von eben jener Rehana. Die Familien beider haben andere Vorstellungen davon, wie eine Beziehung auszusehen hat, weshalb auch diese scheitert.
Gurnah erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, manchmal im Fall von Rashid entlang der eigenen Biografie, und auch Tagebuchaufzeichnungen, in diesem Fall von Amin, sind in den Roman eingefügt. Insgesamt entwirft „Die Abtrünnigen“ ein komplexes literarisches Panorama, in denen verschiedene soziale Milieus und Kulturen aufeinanderprallen.
Obwohl der Roman hierzulande positiv besprochen wurde, fand er wie so oft bei Geschichten, die auf dem afrikanischen Kontinent angesiedelt sind, ein nur kleines Publikum. Nach „Das verlorene Paradies“, einem Roman, der 1994 im Krüger Verlag erschien und Gurnahs Durchbruch als Schriftsteller im angloamerikanischen Raum bedeutete (er wurde auch für den Booker Prize nominiert), „Schwarz auf Weiß“, einem früheren Roman (bei A1), „Donnernde Stille“ sowie dem 2001er-Roman „Ferne Gestade“ (letztere beiden bei der Edition Koppa), blieb „Die Abtrünnigen“ 2006 Gurnahs bislang letztes ins Deutsche übertragenes Buch – obwohl er in den vergangenen Jahren drei weitere Romane veröffentlicht hatte. Sie waren allerdings selbst in England nicht auf größere Resonanz gestoßen.
Gurnah erzählt von den Schicksalen hinter der Migration
Ob sich das jetzt mit dem Literaturnobelpreis entscheidend ändert? „Es geht um literarische Verdienste, um Qualität, exzellente Literatur, das ist das einzige, was bei der Nobelpreisvergabe zählt“, hat das Akademiemitglied Ellen Mattson vor der Bekanntgabe des diesjährigen Preises in einem Interview gesagt. Das ist sicher der Anspruch der Akademie, im Grunde das Mindeste, aber eben auch nur die halbe Wahrheit.
Tatsächlich darf man die Entscheidung für Abdulrazak Gurnah als eine politische verstehen, viel mehr wohl noch als eine literarische, gerade nach den Vergaben zuletzt an Louise Glück, die als zu unpolitisch, als zu konservativ angesehen wurde, und natürlich die höchst umstrittene an Peter Handke, in der das Literarische die einzige Maßgabe war.
Die Entscheidung passt in eine Zeit, in der, wie es scheint: mehr denn je, die Menschen ihre Heimatländer in Scharen verlassen, auf dem afrikanischen Kontinent, dem lateinamerikanischen, dem asiatischen; und in der insbesondere in Europa die eigene koloniale Geschichte, die damit einhergehenden Verbrechen in den Fokus geraten ist und debattiert wird.
Vor diesem Hintergrund passt eine Friedenspreisträgerin wie die aus Simbabwe stammende Autorin und Filmemacherin Tsitsi Dangarembga, und vor diesem Hintergrund macht sich ein Literaturnobelpreisträger wie Abdulrazak Gurnah ausgezeichnet. Eben weil er von den individuellen Schicksalen erzählt, weil er auf soziale, zwischenmenschliche und moralische Konflikte sowie Fragen der Gerechtigkeit hinweist, die über das Regionale hinausgehen.
Weniger ausgezeichnet macht sich diese Wahl, wenn man an all die anderen ewigen Favoriten denkt, die den Preis genauso verdient hätten – doch ist so ein Literaturnobelpreis kein Wunschkonzert, lässt sich gute Literatur nur schwer gegeneinander aufwiegen. Zumal die Schwedische Akademie nach den Turbulenzen in den Jahren 2017 bis 2019 ihren mitunter erratischen Eigensinn wieder einmal unter Beweis stellen musste. Nun heißt es also, das Werk von Abdulrazak Gurnah in Gänze zu entdecken.