Ukrainisches Kriegstagebuch (123): Aus der Vogelperspektive

31.3.2023
Nachmittags ging ich zu einer Geburtstagsparty und bin abends in eine andere Wohnung zurückgekehrt, so ist es in meinem Gedächtnis gespeichert. Bis zu jenem Tag haben wir zusammen mit den Großeltern gewohnt – und plötzlich hatten wir, also meine Eltern, meine kleine Schwester und ich, ein eigenes Zuhause.

Zum ersten Mal in meinem Leben gehörte ein ganzes Zimmer mir und nur mir! Ich war 14 und es fühlte sich fantastisch an. Meine Klamotten, Kassetten, Platten und Gitarre, alles an einem Ort. Die Wand über dem Bett habe ich mit Beatles-Plakaten dekoriert.

Mit 15 fing ich an zu rauchen. Wenn ich allein zu Hause war, stand ich oft auf dem Balkon, zog an einer Zigarette und genoss den Ausblick – unsere Wohnung befand sich im 16. Stock, von da konnte man fast den ganzen Stadtteil sehen sowie die Brücke, den Wald und den Fernsehturm. Oleksijiwka, wohin wir gezogen waren, war ein junger Bezirk, die ersten Plattenbauten erschienen dort Mitte der 1970er.

1991 brachten meine Eltern von ihrer Reise nach Deutschland ein schnurloses Telefon mit, das ziemlich futuristisch aussah. Noch nie zuvor habe ich ein Telefon gesehen, bei dem nicht nur ein Anrufbeantworter eingebaut war, sondern auch noch ein FM-Radio. Leider war es nutzlos, denn im FM-Bereich herrschte damals noch Stille.

Manchmal, auf den Anruf meiner Freundin wartend, drehte ich den Sendersuchlauf-Regler – und eines Tages erlebte ich einen wahren Schock, als aus dem Nichts plötzlich die Stimme von Mariska Veres von Shocking Blue erklang. „Cause I love you sooo, demon lover!“, sang sie und ein paar Sekunden glaubte ich, ein Signal aus dem Weltall empfangen zu haben. Aber das All schwieg wie immer und den Song von Shocking Blue spielten die Moderatoren vom brandneuen Radio 50, das auf FM sendete.

Bald kamen noch zwei Sender dazu – eine sanfte Revolution für Charkiw, wo, wie auch im Rest des Landes, bis dahin nur der staatliche Rundfunk zu hören war. Mit 17 bekam ich meinen ersten Job bei einem dieser neuen Sender. Unser Studio befand sich direkt vorm Fernsehturm, mitten im Wald, hinter einem hohen Steinzaun.

Die „Novaya Scena“ brachte frische Sounds nach Charkiw

Heute muss ich an diese Zeit denken, denn in Mannheim, wo ich gerade für eine Vorstellung beim Nationaltheater Musik schreibe, bin ich in einer Wohnung im 16. Stock untergebracht – und schaue von meinem Balkon auf den lokalen Fernsehturm. Erst hier fällt mir auf, dass ich in meinen 28 Jahren in Deutschland immer nur im 1. Stock gelebt habe.

Ich mache ein Foto mit meinem Handy und schicke es meinem Sohn. Hier, der Blick aus der Vogelperspektive auf Mannheim, erläutere ich und erinnere mich an den Titel eines Albums der Charkiwer No Wave Band Cherepakhy: „Der Blick aus der Vogelperspektive auf die Stadt Isjum“.

Zwar haben weder „Rolling Stone“ noch „Musikexpress“ darüber berichtet, aber letztes Jahr feierte das Album sein 30-jähriges Jubiläum. Es gab weder eine schicke Neuauflage mit Bonustracks noch ein Making-Of-Fernseh-Special.

Cherepakhy waren ein Teil der „Novaya Scena“ – einer Gemeinschaft von Bands, die Charkiws bunte und innovative neue Szene der frühen 1990er bildeten. Max Bondarenko und Zhenja Nikolajewski, die bei Cherepakhy für Gitarre und Schlagzeug zuständig waren, spielten noch in einigen anderen Gruppen der Novaya Scena. Zhenjas Häuschen unweit vom Hauptbahnhof war für sie ein Proberaum und Aufnahmestudio, wo fast täglich in verschiedenen Musikerkonstellationen wild experimentiert wurde. Ich hatte mit den beiden auch ein Projekt, das allerdings nicht länger als zwei Wochen dauerte.

Max ist vor zwölf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und Zhenja starb in einem Evakuationszug im März 2022 an den Folgen von Covid. Und wenn der gleiche Vogel heute, wie vor 30 Jahren, über Isjum fliegt, bin ich mir nicht sicher, ob er die Stadt nach den Monaten russischer Besatzung wiedererkennen würde – mit ihren zahlreichen ruinierten Häusern und hunderten neuer Gräbern.

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