Entgiftet die Debatte!
Wie französisch die Verhältnisse sind, die Thomas Piketty in seinem jüngsten Büchlein behandelt, kann man aus deutscher Sicht leicht unterschätzen. „Überall Identität und nirgends Gerechtigkeit“: Schon der einleitende Stoßseufzer klingt wie die Mahnung an eine zersplitterte Linke, sich nicht in kulturalistischen, oft rein advokatorisch geführten Debatten zu verzetteln. Dabei richtet sich Piketty ausschließlich an eine Rechte, die durch Kampfbegriffe wie den „Großen Austausch“ (Renaud Camus) Überfremdungsängste schürt.
Die systematische Einseitigkeit seiner Perspektive, die auch die Macron-Regierung mit ihrer Polemik gegen den „Islamogauchisme“, die angebliche Allianz von Linken und Islamisten, einbezieht, sollte einen allerdings nicht davon abhalten, das Grundanliegen seines Essays, „Auswege aus der identitären Sackgasse“ zu finden, als Wohltat zu würdigen.
[Thomas Piketty: Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen. Aus dem Französischen von Stefan Lorenzer. Verlag C.H. Beck, München 2022. 76 Seiten, 10 €.]
Piketty, als egalitär ausgerichteter Vertreter eines „partizipativen und dezentralen Sozialismus“ zum wirtschaftswissenschaftlichen Weltstar geworden, versucht in „Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen“ das Gift des Rassismus vom verblendeten Kopf auf die sozioökonomischen Beine zu stellen.
Statt individueller Vorurteile und persönlicher Betroffenheiten empfiehlt er, „herkunftsbedingte Ungerechtigkeit“ im Schulwesen oder bei Bewerbungsverfahren zu objektivieren und ein universalistisches Modell von Benachteiligungen zu entwickeln. Mit jährlichen Massentestings soll eine Nationale Beobachtungsstelle Indikatoren für Art und Ausmaß rassistischer Diskriminierung erarbeiten.
Anders als in den USA oder Großbritannien will er aber nicht ethnisch-„rassische“, um die Pole von Weiß und Schwarz kreisende Kriterien in den Mittelpunkt stellen, sondern schlicht das Geburtsland der Eltern.
Mit diesem empiriegestützten Fokus ergänzt Piketty sein 1300-seitiges Opus magnum „Kapital und Ideologie“ um ein wichtiges Kapitel: 2019 entwarf er eine globale Geschichte der Ungleichheitsregime seit dem Aufkommen der Ständegesellschaften. Zugleich legt er eine Interventionsschrift mitten im französischen Wahlkampf vor – wenn die akademische Behäbigkeit seines Stils dem nicht Grenzen setzen würde, die er am ehesten als sprudelnder Redner überwindet.
Piketty macht eine Vielzahl praktischer Vorschläge – etwa neue Formen religiöser Neutralität zu schaffen. Gerade im laizistischen Frankreich profitierten nämlich die christlichen Kirchen am meisten von Steuerprivilegien, die wiederum zur Ghettoisierung von konfessionell gebundenen, insbesondere katholischen Schulen führten. So könnte auch Licht in die undurchsichtige Finanzierung muslimischer Institutionen gebracht werden.
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Das alles lässt sich nicht ohne Weiteres auf andere Länder übertragen, aber es benennt die kritischen Felder. Fraglich ist nur, ob mit einer nationalen Beobachtungsstelle nicht ein technokratisches Monster entstünde, das die Diversität, auf die es zielt, nicht schon durch das einzelfallferne big picture gefährdet, das es damit erschafft.