Brüder im Fleische
David Bennett hat Geschichte geschrieben. Obwohl der US-Amerikaner Anfang März im Alter von 57 Jahren verstarb, ist er als erster Mensch in die medizinischen Annalen eingegangen, dem erfolgreich ein Tier-, genauer: ein Schweineherz transplantiert wurde. Rund zwei Monate lebte der an einer fortgeschrittenen Insuffizienz erkrankte Mann mit dem genetisch modifizierten Organ.
Es war nicht zufällig ein am Fleischerhaken baumelndes Schwein, an dem Daniel Day Lewis in Martin Scorceses historischem Krimi „Gangs of New York“ dem guten Leonardo DiCaprio demonstriert, in welche vulnerablen Körperregionen er ihm bei nächster Gelegenheit das Messer zu rammen gedenkt.
Spätestens seit der Antike werden die auffälligen Parallelen im Körperbau zwischen Mensch und Schwein reflektiert. Und noch heute wird in manch chirurgischer Lehrstunde oder beim militärischen Sanitätsdienst für den Ernstfall am domestizierten Borstenvieh geübt. Tatsächlich teilen Mensch und Schwein zu 90 Prozent dieselbe DNA sowie eine Jahrtausende währende Historie, die sich jedoch nur verschlungen und mit erheblichen regionalen Differenzen rekonstruieren lässt.
Symbolische Projektionsfläche
Wo im homerischen Epos der Beruf des Sauhirten als höchst ehrbar hervorgehoben wird, gelten an anderen Mittelmeergestaden schon längst strenge Speiseregeln, die das Schwein als besonders unreines Tier klassifizieren und dessen Genuss untersagen. Zumindest im nach wie vor christlich geprägten Europa, aber auch in weiten Teilen Asiens, ist das Schwein als symbolische Projektionsfläche allgegenwärtig und in seiner Ambivalenz kaum kohärent auszudeuten.
Ein Zeitgenosse kann entweder Schweinchen Schlau oder saublöd sein, als sexuelle Konnotation darf das Schweinische wiederum als abartig oder im besseren Sinne anrüchig gelten. Anthropomorphisierende Schwein-Vergleiche sind omnipräsent. Und das obwohl, wie dem norwegischen Journalisten Kristoffer Hatteland Endresen eines Tages auffiel, die Schweine als Lebewesen de facto aus unserem Alltag verschwunden sind.
[Kristoffer Hatteland Endresen: Saugut und ein wenig wie wir. Eine Geschichte vom Schwein. Westend Verlag, Frankfurt a. M. 2022. 272 Seiten, 18,99 €.]
Sein Buch mit dem auf Deutsch etwas klamaukigen Titel „Saugut und ein wenig wie wir. Eine Geschichte über das Schwein“ versteht sich als Spurensuche nach dem Tier, das zur Wurst gepresst auf dem Teller nicht fehlen darf, das wir aber kaum mehr zu Gesicht bekommen.
Dabei leben alleine in Norwegen über anderthalb Millionen Schweine – allerdings in überwältigender Mehrheit abgeschirmt von den Menschen in riesigen Zuchtfarmen. Die totemistische Respektbeziehung, also dem Tier, das man isst, im Gegenzug für sein Leben die Ehre zu erweisen, wurde im Zuge der Industrialisierung Schritt für Schritt aufgekündigt. Kaum ein die Landidylle propagierendes Kinderbilderbuch kommt ohne friedlich die Ferkel säugende Sauikonografie aus.
Zweifelhafter Stallfrieden
Wie sehr solch dargestellter Stallfrieden von den realiter herrschenden Haltungsverhältnissen à la Tönnies und Zulieferer abweicht, ist hinlänglich bekannt und kritisiert worden. Doch am Konsumverhalten ändern auch Gräueldokumentationen erschreckend wenig.
Diese „kognitive Dissonanz“ musste Kristoffer Hatteland Endresen sich auch im Hinblick auf die eigenen Essgewohnheiten eingestehen. Daher entschied er sich, einen großen Schweinehof aufzusuchen und vor Ort zu schauen, was die hautnahen Einblicke wohl mit ihm machen würden. Im Küstenland von Jæren trifft er auf ein Bauerngespann aus Vater und Sohn, die ihm zunächst reserviert gegenübertreten.
Endresen kann die Skepsis nachvollziehen. Die Bigotterie einer verzogenen Konsumgesellschaft, die vehement bessere Haltungsbedingungen fordert, doch dafür an der Discounterkasse nicht bereit ist, ein paar zusätzliche Cents zu zahlen, muss die seit Generationen als Schweinebauern tätigen Männer zwangsläufig vor den Kopf stoßen.
Diese Aufrichtigkeit in Bezug auf die eigene Verlogenheit ist Endresens Stärke. Das erkennen wohl auch die beiden Bauern und lassen ihn ein Schweineleben vom Ferkelwurf bis zum Schlachthof begleiten. Auf Grundlage dieser Erfahrung hat Endresen einen Bericht geschrieben, der zwischen Investigativjournalismus, Gesellschaftsanalyse und kulturgeschichtlicher Tiefenbohrung mäandert.
Bis auf einige wenige Szenen, die atmosphärisch übertüncht geraten sind, ist ihm eine Darstellung geglückt, die als Komplement neben Thomas Machos weiterhin sehr lesenswertem Porträt „Schweine“ (2015) in der „Naturkunden“-Reihe von Matthes & Seitz bestehen kann. Denn Endresen weiß gleichermaßen aufschlussreich über die bedeutende Rolle der Wildschweinjagd für die Evolution des Menschen, den Zusammenhang von Tieropfer und Speisegebot sowie den Konnex Nutztierzucht und Patriarchat zu berichten.
Mit der Intelligenz eines Machiavelli
Ein Kapitel, das um die Frage nach den kognitiven Fähigkeiten von Schweinen kreist, ist besonders lehrreich. Gut nachvollziehbar referiert Endresen hier das Abschneiden der Tiere im Spiegeltest, ihre „machiavelli’sche Intelligenz“ und die hirnschrumpfenden Auswirkungen der beengten Haltungszustände – um die Gretchenfrage zu stellen, „ob es letztendlich eine Rolle spielt, wie klug ein Schwein ist“, anstatt zu ergründen, ob es in der Daseinsform, in die wir es zwingen, leidet.
Die Hard Facts kommen jedenfalls nicht zu kurz, wenn es beispielsweise um die Klimasünde Fleischverzehr oder grassierende Antibiotikaresistenz geht. In eingestreuten Infokästen weist die Übersetzung darüber hinaus aktuelle Zahlen für Deutschland aus. Hier findet sich Endresens These vom unsichtbaren Schwein eindrucksvoll belegt – oder wussten Sie, dass hierzulande im Jahr 2020 satte 53,2 Millionen Schweine geschlachtet wurden?
Ein beträchtlicher Anteil der Tonnen an Fleisch, die in diesem Zuge verhackstückt werden, findet im Binnenmarkt freilich keine Abnehmer mehr. Die Filets nimmt man gerne. Die Hufe, Nasen und Ohren, mit denen niemand mehr zu kochen weiß, werden exportiert, vornehmlich nach China. Um die Komplexität der erdumspannenden Massentierhaltung in unserer Zeit zu verstehen, sei Rudolf Buntzels „Pig Business.
Vom Hausschwein zum globalen Massenprodukt empfohlen“. Ein Band, der hervorragend als Diskussionsgrundlage taugt. In zwölf Kapiteln, die zur Hälfte aus der Feder von Co-Autoren unterschiedlicher fachlicher Ausrichtung stammen, evaluieren der Agrarökonom Buntzel und seine Mitstreiter den Status quo des Schweins als international verschandelte Ware.
[Rudolf Buntzel: Pig Business. Vom Hausschwein zum globalen Massenprodukt. oekom verlag, München 2022. 340 Seiten, 25 €.
Bereits die Leitunterscheidung je nach Haltungsbedingung und Welthandelseinbindung in lokales, bäuerliches oder globales Schwein erweist sich als Perspektiverweiterung. In Vietnam zum Beispiel werden weiterhin 18,5 von insgesamt 29 Millionen Schweinen privat gehalten.
Krasse regionale Unterschiede
Solche krassen regionalen Unterschiede reflektieren allzu häufig das schwindelerregende Gefälle von Lebensstandards hie und da. Und es ist besonders der Deutungshorizont der Armut in Schwellen- und Entwicklungsländern, der die Leser aus der sogenannten ersten Welt aufhorchen lassen sollte.
Das lässt sich an einem kleinen Rechenbeispiel verdeutlichen: 50 Prozent des Weltgetreides wird als Tiernahrung verwendet, pro drei Kilo Getreide nimmt ein Schwein selbst in Hochform allerdings nur einen Kilo Schlachtgewicht zu. Der Konversionsverlust ist also immens und man muss schon arg mit der Agrarlobby verklüngelt sein, um sich in der Frage, wie der Hunger auf der Welt am besten zu bekämpfen sei, für das magere Kotelett zu entscheiden.
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Zu einer lohnenswerten Lektüre gerät „Pig Business“ vor allem durch die Differenzierungsgabe seiner Beiträger. Anstatt mit dem Finger auf die vermeintlich bösen Bauern zu zeigen, wird deren Ausweglosigkeit aus dem Hamsterrad des Preisdumpings veranschaulicht.
Denn eines ist sicher: „Das globale System kennt keine Gewinner.“ Über die schwerlich koscheren Branchenriesen, das Tierschutzlabel als Verbrauchertäuschung, aber auch die kulinarische Delikatesse Schwein, von der sympathischerweise ein nachhaltig orientierter Metzgermeister berichtet, ist einiges zu lernen. Dessen Credo sollte Schule, besser noch Gesetze machen: „Lieber weniger und seltener, dafür immer ‚was Gscheit’s’.“