Eröffnung der Staatsopern-Festtage: Scheitern und Chance

Ein wenig Angst ist immer dabei, wenn die „Missa solemnis“ auf dem Programm steht. Dieses Monstrum von Messe, an der Ludwig van Beethoven vier Jahre lang bis 1823 arbeitete (nachdem er auch die letzte Deadline für die Uraufführung zur Erzbischof-Inthronisation von Erzherzog Rudolph gerissen hatte) und für die er im Ringen mit dem Katholizismus und einem eigenen Gottesbild die liturgischen Texte eigens persönlich übersetzte! Diese unsingbaren Chorsopran-Passagen, das undurchdringliche Taktwechsel-Gestrüpp und die schier undirigierbaren Klangballungen; dieser Anfang aus dem Ungefähren und der eigentümliche Nicht-Schluss des Werks – wie würde die notorisch hohe Chance zum Scheitern diesmal genutzt?

Gewiss wollte Daniel Barenboim die „Missa“ zum Auftakt der diesjährigen Berliner Staatsopern-Festtage selbst dirigieren, immerhin die erste Staatsopern Aufführung des 80-Minuten-Werks seit 61 Jahren. Aber sein Gesundheitszustand erlaubt seine Mitwirkung an den Festtagen nicht, Marc Minkowski wollte einspringen, gab jedoch wegen einer Armverletzung an Jérémie Rhorer ab.

Gleich in den ersten Takten wird deutlich, dass der französische Dirigent und Leiter des Ensembles Le Cercle de l’Harmonie sich dem Extremwerk mit seinen Erfahrungen als Originalklang-Experte nähern möchte. Behutsam, um Transparenz bemüht setzt er an bei seinem Staatskapellen-Debüt, hebt auf das bange Melos der Geigen ab, nicht auf die Trompeten.

„Von Herzen – möge es – wieder zu Herzen gehen!“ Beethovens berühmte Widmung im Autograph wird auch zum Motto des Abends in der Philharmonie, mit gedämpften Lautstärken, weichen Konturen in den Andachts-Passagen und immer wieder gedrosselten Tempi. Ein Motto, das allerdings weitgehend Absichtserklärung bleibt, trotz der Schönheit der zögerlichen, selbstzweiflerischen Partien. Im „Qui tollis peccata mundi“ ringen die Solisten förmlich um Worte, im „Benedictus“ bezaubert die innig singende Sologeige das Publikum. Und im „Credo“ intonieren die Chor-Bässe die Menschwerdungs-Zeile „et incarnatus est“ fast flüsternd, bevor die Soloflöte als Inkarnation des Heiligen Geistes herniederschwebt.

Es bleiben versprengte Ruhepole einer Aufführung, die dem insgesamt Versprengten und aus der Zeit Gefallenen der „Missa solemnis“ nicht beikommt, vor allem nicht den sich auftürmenden, rasend sich überstürzenden Fugen und schmerzlich himmelhohen Fortissimi.

Zu störend die Wackler bei Satzanfängen, unsaubere Intonation, unausgewogene Dynamik (die Sologeige im „Benedictus“ ist nur schwer zu hören), die mangelnde Textverständlichkeit des streckenweise weniger angestrengt (unvermeidlich bei der „Missa“) als überfordert klingenden Staatsopern-Chors und das Opernhafte des Solisten-Quartetts.

Klar, Beethoven macht es ihm schwer mit den vertrackt versetzten Einsätzen, aber die vier finden auch sonst nicht zusammen. Camilla Nylund, Anna Kissjudit, Saimir Pirgu und René Pape betonen eher ihr je eigenes Timbre, Vibrato und Diktion. Sie stehen hinten, zwischen Orchester und Chor, eine sinnfällige Platzierung wegen der häufigen Durchmischung von Soli und Tutti. Bei allem Bemühen der Staatskapelle um Differenzierung wird der Gesamtklang jedoch oft suppig, diffus; vor allem René Pape, der als Einziger auf Opern-Bravour verzichtet, vermag nicht durchzudringen.

Überhaupt kann Jérémie Rhorer nicht klarmachen, worum es ihm geht. Um Beethovens so präzise wie eigenwillige Textauslegung? Um den Wahn, der jedem Gottglauben vielleicht auch innewohnt? Um die Verzweiflung der Friedensappelle an einen wie immer gearteten Gott angesichts der Kriege auf Erden? Den Einbruch der Wirklichkeit ins „Agnus Dei“, wenn die Trompeten zur Schlacht rufen und die Pauke wiederholt unheilvoll grummelt, lässt Rhorer erstaunlich heiter anstimmen. Ein munterer Zapfenstreich? Die verwegene Utopie des tänzerischen „Dona nobis pacem“ verliert so ihre Wirkung.

Nun sind bei Beethovens op. 123 sind schon viele große Musiker an ihre Grenzen geraten. Vielleicht ist der Abend auch Symptom einer Krise. Die „Missa“ erfordert exzellente Verständigung und Vertrautheit von Orchester, Chor und Maestro, oder sehr viel Probenarbeit. Die Staatskapelle leidet an der Vakanz des Generalmusikdirektorpostens, seit Daniel Barenboim im Januar seinen Rücktritt bekannt gab. Es wird dauern, bis Berlins neuer Kultursenator – Joe Chialo soll es wohl werden – eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger an der Lindenoper verkündet. Man kann der Staatskapelle nur Ausdauer für ihre Durststrecke ohne künstlerische Leitung wünschen.

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