Mykola Bazhan bekommt ein musikalisches Update von mir

8. Mai 2022
Seit den frühen 2000ern verbrachte ich so gut wie jedes Wochenende außerhalb von Berlin. Dann kam die zweijährige Corona-Zwangspause. Nun geht das Tourleben langsam weiter, es fühlt sich jedoch ganz anders an. Bei meinen Auftritten in den letzten zwei Monaten geht es mir weniger um Unterhaltung und Party, sondern vor allem um Aufklärung – und darum, Spenden zu sammeln.

Am Freitag bin ich nach Hannover eingeladen, ich soll nach dem Abschlusskonzert eines Wettbewerbs für jüdische Musik auflegen. Als ich am Veranstaltungsort ankomme, macht ein Chor auf der Bühne noch den Soundcheck. Ich stehe in der Ecke und höre zu. Es klingt wie eine Mischung aus alten sowjetischen Filmsongs und israelischen Schlagern aus den 1960ern.

„Aber was ist mit Puschkin?“

Als die Chorleiterin mich sieht, lächelt sie und spricht mich an – auf Russisch: „Das haben Sie schon bestimmt so oft gehört, aber Sie sehen tatsächlich dem Dima P. sehr ähnlich!“ Ich bin leicht verwirrt, denn weder hatte mir das bis dahin jemand gesagt noch weiß ich, von wem die Rede ist.

Es stellt sich heraus, dass Dima P. ein bekannter zeitgenössischer russischer Schriftsteller ist. Ich gestehe, das Interesse an russischer Literatur vor acht Jahren verloren zu haben, als die Krim okkupiert wurde und der Krieg im Donbass begann. Sie wirkt schockiert. „Wie jetzt? Aber was ist mit Puschkin?“, fragt sie. Irgendwie ist Puschkin immer das letzte Argument. „Auch an Puschkin“, sage ich. Meine Antwort enttäuscht sie offenbar.

Das Auflegen fällt mir an diesem Abend schwer, obwohl neue jüdische Musik mein Thema ist. Aber ich bin nicht in der richtigen Stimmung für Beats und Grooves. Am nächsten Morgen komme ich unausgeschlafen und fast zu spät zum überfüllten Bahnhof, an dessen Eingang ich eine blau- gelbe Fahne sehe – es ist die Infostelle für die ukrainischen Flüchtlinge, stelle ich fest. Daneben versammeln sich singende Fußballfans und die Polizei. Mein ICE kommt mit fünf Minuten Verspätung und ich schaffe es gerade noch, in den Zug zu springen.

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Während ich einen Sitzplatz suche, vibriert mein Handy. Das sind die Benachrichtigungen aus den sozialen Medien – Reaktionen auf mein neues Lied, das heute veröffentlicht wurde. Es ist die Fortsetzung von „Fokstroty“, mein Projekt aus dem letzten Jahr – ungewöhnliche Popsongs zu Texten der ukrainischen Dichter des frühen 20. Jahrhunderts.

Diesmal habe ich Musik zu dem 1941 geschriebenen Gedicht „Der Schwur“ von Mykola Bazhan gemacht. In anderen Zeiten hätte es vielleicht pathetisch geklungen, aber es passt (leider) ideal zum Jahr 2022: „Nie, nie wird die Ukraine zur Sklavin faschistischer Henker!“ Mein Track ist ein musikalisches Update – die Synthesizer pulsieren, der Bass brummt, Bazhan klingt fast wie ein Hip-Hop-MC. „Was für ein cooler Titel, haben ihn uns gerade gleich dreimal nacheinander im Schutzbunker reingezogen“, lautet der erste Facebook-Kommentar.

Drei Stunden, zwei Telefonate und zwölf E-Mails später komme ich in Mannheim an, hier muss ich nicht auflegen, sondern werde an einer Diskussion teilnehmen. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Reconnecting Europe“ sollen wir über die Rolle der Kultur in Krisenzeiten reden. Obwohl ich hauptberuflich Musiker und DJ bin, bin ich dankbar, an diesem Abend nicht spielen zu müssen und nur zu sprechen, denn für die Künstler aus der Ukraine ist das Thema gerade hochaktuell.

Als wir fertig sind und ich wieder Nachrichten lesen kann, sehe ich, dass in der Nähe von Charkiw, im Dorf Skoworodiniwka, das Museum zu Ehren des Philosophen Hryhorij Skoworoda von russischen Raketen getroffen wurde. Es ist vollständig ausgebrannt. Vor wenigen Monaten hatte ich noch mit den netten Mitarbeitern des Literaturmuseums in Charkiw über ein gemeinsames Projekt zum 300. Geburtstag von Hryhorij Skoworoda gesprochen, der dieses Jahr gefeiert wird. Auch ein Ausflug nach Skoworodiniwka war geplant.

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