Halt mich, während die Welt brennt

Es war ein leiser, freundlicher Abgang. Will Butler schrieb Mitte März auf Twitter, dass er die Band Arcade Fire verlassen habe. Einen konkreten Grund habe es dafür nicht gegeben, er habe sich einfach verändert, die seit knapp zwei Dekaden existierende Gruppe ebenfalls. „Zeit für etwas Neues“, schrieb Butler.

An dem gerade erschienenen sechsten Album von Arcade Fire hat der Multiinstrumentalist und jüngere Bruder von Sänger Win Butler noch mitgewirkt. Beim Hören von „WE“ wird seine Ausstiegsentscheidung noch einmal besser nachvollziehbar, denn das 40-minütige Werk stellt zwar eine Rückbesinnung auf alte Stärken der Band dar, die bereits mit ihrem Debütalbum „Funeral“ von 2004 berühmt geworden war, eröffnet aber keinerlei Perspektiven, die auf eine aufregende Weiterentwicklung hindeuten.

Das Ich als angsterfüllte Kreatur

Wenn Will Butler etwas Neues probieren möchte, ist er bei der von seinem Bruder und seiner Schwägerin Régine Chassagne einst in Montreal gegründeten und bis heute angeführten Gruppe an der falschen Adresse – die Experimente haben sie längst hinter sich.

Jetzt geht es vor allem darum, das unterwegs gewonnene Indierock-Amalgam möglichst fein zu präsentieren, die eigene Reife zu zelebrieren. Dieser Anspruch zeigt sich schon bei der mitgelieferten Information, dass sich der Albumtitel auf den gleichnamigen, 1920 fertiggestellten Roman des russischen Schriftstellers Jewgeni Samjatin bezieht.

Der Autor, der unter anderem George Orwell beeinflusste, entwirft darin das Bild eines Überwachungsstaates des 26. Jahrhunderts, in dem alles auf das Kollektiv ausgerichtet ist und die Individuen nichts zählen. Eine recht deutliche Kritik an der Sowjetunion, die dazu führte, dass das Werk erst 1925 erstmals erscheinen konnte – auf Englisch.

Bei Arcade Fire klingt das Ich, dem die erste, mit „I“ betitelte Hälfte des Album gewidmet ist, nach einer gequälten, von Ängsten gepeinigten Kreatur. Der Eröffnungssong „Age Of Anxiety I“ tastet sich über einem hintergründigen Bassyntheszizer-Pochen in eine finstere Seelen- und Zeitbeschreibung vor, in die ein kleines Pianomotiv und eine geschlagene Akustikgitarre einige Lichtstrahlen werfen.

Etwa in der Mitte startet das fast fünfeinhalbminütige Stück neu, der Bass kommt endlich von der Stelle, ein Beat und Streicher kommen hinzu, um bei der Dämonenaustreibung zu helfen: „Gotta get the spirit out of me/ This anxiety that’s inside of me“, singen Régine Chassagne und Win Butler. In Teil zwei der Anxiety-Saga fallen Arcade Fire in ein „Rabbit Hole“, lassen sich von Giorgio Moroder und Anne Clark inspirieren und fabulieren von einer brennenden Akropolis, der Apokalypse in Arkadien und einer Plastikseele.

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Kleiner haben sie es nicht – dieser Gedanke drängt sich auch bei der Ballade „End Of Empire I – III“ auf, die sich kurz bei John Lennons „Imagine“ bedient und sich in einen schamlos hymnischen Chorus hineinsteigert, bei dem man schon das Handylichter-Meer in den Großarenen bei der anstehenden Tour wogen sieht.

Eingespielt in den vergangenen beiden Pandemie-Jahren, war es vielleicht die Sehnsucht nach eben solchen Momenten, wegen der sich die Band bei „WE“ auf ihren Überwältigungssound besonnen hat. Er prägt auch die zweite, deutlich positiver gestimmte Hälfte der Platte, die mit den Songs „The Lightning I“ und „The Lightning II“ eröffnet, die so übereuphorisch und Dur-selig den Zusammenhalt von zwei oder auch mehreren Menschen beschwören, dass es schwer ist, davon nicht mitgerissen zu werden.

[„WE“ erscheint bei Columbia/Sony. Konzert: 29.9., Mercedes-Benz-Arena, Berlin]

Dieser Teil der Platte ist dem Wir, dem Gemeinschaftsgefühl, der Familie gewidmet. Die Kollektivität ist dabei nicht die Feindin der Individualität, sondern ein Quell der Hoffnung. In ihr kann das angstgeplagte Ich Halt finden. Der Kollektivgedanke war der Band bei ihren Bühnenshows und in ihren Videos immer wichtig, wobei das Herz von Arcade Fire ganz klar Régine Chassagne und Win Butler sind.

Zusammen mit Nigel Godrich haben die Eheleute „WE“ auch produziert. Aufgenommen wurde in verschiedenen Studios, als gemeinsames Musizieren wieder möglich war. Ein Song ist dem Sohn des Paars gewidmet, der darin ermutigt wird, seinem Herz zu folgen. Der Refrain besteht bloß aus „Do-do-do-dos“, doch der Junge wird schon verstehen, dass ihm seine Eltern hier eine Liebesbotschaft senden. Zumal das Stück „Unconditional I“ heißt.

Teil II ist der einzige Song mit Régine Chassagnes Leadgesang – und der klarste Verweis auf die dancerockige Seite der Band. Ein spätes Highlight des Albums, bei dem Peter Gabriel als Gastsänger zu hören ist. Schade nur, dass er der Band nicht von den Refrainzeilen „I’ll be your race and religion/ You’ll be my race and religion/ This love is no competition“ abgeraten hat.

Auch wenn es sich bei Race und Religion um zwei sich kreuzende Straßen in New Orleans handelt, wo das Ehepaar wohnt – gesungen klingt es daneben. Den Fans im Stadion wird es egal sein, die Freude über das wiedergefundene Wir dürfte jeden Quatschtext überstrahlen.