Hertha BSC und die Lust am Drama

Wie viele normale Menschen, so hat auch Hertha BSC die Corona-Pandemie dazu genutzt, das eigene Zuhause ein wenig aufzuhübschen. Im Kabinengang des Olympiastadions zieren jetzt Fotowände den Weg zum Spielfeld, und unmittelbar vor dem Aufgang in den Innenraum sind auf zwei Fernsehmonitoren wichtige Tore aus der jüngeren Vergangenheit in Dauerschleife zu sehen.

Da erzielt Kapitän Dedryck Boyata im Kampf gegen den Abstieg ein wichtiges Tor gegen den FC Schalke. Davie Selke trifft gegen Leipzig, Krzysztof Piatek beim Sieg gegen den 1. FC Union und Suat Serdar auf spektakuläre Weise gegen den FC Liverpool.

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Der Samstagabend und das Heimspiel gegen den FSV Mainz 05 wären für den aktuellen Hertha-Jahrgang eine gute Gelegenheit gewesen, ebenfalls Geschichte zu schreiben. Aber abgesehen von einem Elfmeter, den Davie Selke zum zwischenzeitlichen 1:1 für seine Mannschaft verwandelte, gab es für Hertha nichts zu feiern. Nicht am Samstag und auch nicht am Sonntag. Weil die Bayern gegen Stuttgart nur 2:2 spielten, müssen die Berliner tatsächlich bis zum letzten Spieltag um den Verbleib in der Bundesliga zittern.

Ein Sieg der Münchner gegen den VfB hätte Herthas Klassenerhalt perfekt gemacht. Genauso wie ein Sieg der Berliner gegen Mainz am Abend zuvor. Doch anstatt die Dinge selbst zu regeln, kassierte Hertha im fast ausverkauften Olympiastadion eine deprimierende 1:2 (1:1)-Niederlage. „Das ist Fußball. Man kann sich das nicht aussuchen“, sagte Herthas Mittelfeldspieler Kevin-Prince Boateng. „Es ist genauso gelaufen, wie wir es nicht wollten.“

Damit allerdings auch genauso, wie es viele erwartet hatten. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Dass Hertha einen Hang zu dramatischen Wendungen hat, das war schon in der Woche zuvor zu sehen, als die Mannschaft gegen Arminia Bielefeld 1:0 führte, kurz vor Schluss die Riesenchance zum 2:0 verdaddelte – und in der Nachspielzeit noch den Ausgleich kassierte. Das Unentschieden der Bayern passte da ebenfalls perfekt ins Bild.

Am letzten Spieltag muss Hertha nach Dortmund

Das einzig Gute für Hertha ist: Die Mannschaft hat es auch am letzten Spieltag weiterhin in der eigenen Hand: Mit einem Sieg oder einem Unentschieden bei Borussia Dortmund wäre Hertha gerettet – ganz egal, wie das Heimspiel des VfB gegen den 1. FC Köln ausgeht.

„Wir haben viel Aufwand betrieben, um überhaupt in diese Situation zu kommen“, sagte Davie Selke, der im Spiel gegen Mainz in der Nachspielzeit sogar für einen kurzen Moment den vermeintlichen Ausgleich bejubelt hatte. Doch der Treffer zählte nicht, weil Selke etwas zu offensichtlich seinen Gegenspieler weggeschubst hatte, der daraufhin etwas zu offensichtlich durch die Luft geflogen war. Das passte genauso in die Gesamtsituation wie der Pfostenschuss des gerade eingewechselten U-19-Spielers Luca Wollschläger wenige Augenblicke zuvor.

Es sind vermutlich solche Szenen, die Herthas Trainer Felix Magath in seiner grundsätzlichen Skepsis bestätigen, die seinen Pessimismus nähren und ihn weiterhin mit dem Schlimmsten rechnen lassen. Magath, der Seher vom Schenckendorffplatz, sprach nach der Niederlage gegen die Mainzer unaufgefordert von der Relegation, und nachdem er explizit dazu befragt worden war, antwortete er: „Als Profi, für den ich mich halte, bereite ich mich auf den schlechtesten Fall vor.“

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Dazu gehört auch, nicht zwingend davon auszugehen, dass Hertha mit wehenden Fahnen in Dortmund triumphieren wird. „Keine Ahnung, wie Sie jetzt Fußball beurteilen“, entgegnete Magath auf die Frage, ob er seiner Mannschaft gegen den BVB denn gar nichts zutraue. „Wir spielen gegen den Tabellenzweiten, wir sind Tabellenfünfzehnter. Ich würde sagen, dass der Tabellenzweite zu Hause gegen den Tabellenfünfzehnten mehr Spiele gewinnt als verliert.“

Man mag diese Skepsis für übertrieben halten, für ein wenig affektiert gar. Andererseits: Wenn jemand Spaß an dramatischen Wendungen hat, dann ja wohl Hertha BSC. Am Samstag war alles bereitet für ein versöhnliches Ende einer wieder einmal viel zu turbulenten Saison. Die Niederlage der Bielefelder am Abend zuvor hatte die Situation sogar noch weiter entspannt. Direkt absteigen kann Hertha nicht mehr. „Ich war zuversichtlich, dass wir aufgrund der besseren, der nicht so druckvollen Situation ein besseres Spiel machen“, sagte Magath.

Hertha wirkte gehemmt, nicht beflügelt

Doch seine Mannschaft wirkte gegen die Mainzer nicht etwa beflügelt von der Aussicht auf die Rettung, sondern eher gehemmt. „Wir waren nicht im Spiel, nicht frisch im Kopf“, fand Boateng. „Es hat viel von dem gefehlt, was uns in den vergangenen Wochen ausgezeichnet hat: die Spritzigkeit, die Ruhe am Ball, die Cleverness.“

Nach gutem Beginn mit viel Eifer ließ Hertha den Gegner recht unbehelligt ins Spiel finden. „Wir haben uns immer passiver verhalten und die Mainzer das Spiel machen lassen“, klagte Magath. „Die Mannschaft hat den Einsatz irgendwie zurückgefahren, hat mehr versucht zu spielen. Aber so weit sind wir halt noch nicht. Insofern haben wir das verkehrte Mittel gewählt.“ Welche Konsequenzen er aus der Erkenntnis ziehe, dass die Mannschaft mit dem geringeren Druck nicht klargekommen sei, ist Felix Magath am Samstagabend noch gefragt worden. „Dass sie mehr Druck braucht“, antwortete er. Kriegt sie.