Hertha BSC setzt auf den eigenen Nachwuchs: Mit dem Maximum an Herz und Mumm
Mit gerade 20 Jahren ist Derry Scherhant noch ein vergleichsweise junger Mann, und doch wurde er am frühen Sonntagabend unter anderem von nostalgischen Anwandlungen übermannt. An seinem bisher vermutlich schönsten Tag als Fußballer kamen ihm noch einmal die dunklen Zeiten in den Sinn. Zeiten, die bei ihm noch gar nicht so lange zurückliegen.
In der U 17 spielte der jetzige Profi von Hertha BSC noch für Viktoria 89. Beziehungsweise: Meistens spielte er nicht. „Damals saß ich den größten Teil auf der Bank“, erzählte er nach Herthas befreiendem 4:1-Sieg gegen Borussia Mönchengladbach.
Scherhant hatte einen nicht unwesentlichen Beitrag zu diesem Erfolg geleistet. In der Nachspielzeit, mitten hinein in die einzige etwas zwingendere Phase der sonst weitgehend harmlosen Gladbacher, erzielte er das vorentscheidende 3:1 für den Berliner Fußball-Bundesligisten.
An der Strafraumgrenzte überlupfte Scherhant seinen Gegenspieler Florian Neuhaus, mit zwei Kontakten brachte er den Ball anschließend in die richtige Position, ehe er aus der Drehung und durch die Beine des Verteidigers Ko Itakura ins lange Eck traf. „Ich will einfach draufhalten, versuchen aus jeder Lage zu schießen.“ Das hatte sich Scherhant schon vor dem Spiel vorgenommen.
Für den gebürtigen Berliner war es das erste Bundesligator überhaupt. Genau wie für den gebürtigen Berliner Marton Dardai, der kurz nach der Pause zum 2:1 getroffen hatte, nachdem der gebürtige Berliner Jessic Ngankam mit dem 1:1 die Führung der Gladbacher ausgeglichen hatte.
„Es fühlt sich unglaublich an. Ich bin immer noch sprachlos“, sagte Scherhant über seinen Premierentreffer. „Das ist genau der Moment, von dem man sein ganzes Leben träumt: im Olympiastadion ein Tor zu schießen für die Hertha. Ich kann’s immer noch nicht fassen. Ich bin sehr glücklich.“ So glücklich, dass ihm später in der Kabine sogar die Tränen kamen.
Das ist genau der Moment, von dem man sein ganzes Leben träumt: im Olympiastadion ein Tor zu schießen für die Hertha.
Derry Scherhant nach seinem ersten Bundesligator
Nicht nur für Scherhant, für die gesamte Mannschaft, den ganzen Verein und dessen Fans war das Heimspiel im Olympiastadion ein extrem emotionales Erlebnis, ein multiples Gefühlsspektakel mit Freude, Erleichterung, aber auch ein bisschen Stolz.
Das lag vor allem an den Schützen der ersten drei Berliner Tore, die alle aus dem eigenen Nachwuchs hervorgegangen sind. Das sei „auch überragend“, sagte Marco Richter. Erst recht, nachdem Präsident Kay Bernstein den Verein vor knapp zwei Wochen nach der Entlassung des bisherigen Geschäftsführers Fredi Bobic auf den Hertha-Weg geschickt hatte. Verstärkt auf Spieler aus der Nachwuchsakademie zu setzen, das ist jetzt das erklärte Ziel des Klubs.
Das Spiel gegen Gladbach hat gezeigt, dass dieser Weg keinesfalls direkt ins Verderben führen muss. Trainer Sandro Schwarz ist am Sonntag gefragt worden, ob die Jungs aus dem Nachwuchs nach den vier Niederlagen aus den ersten vier Spielen womöglich unbedarfter mit der komplizierten Situation umgegangen seien. Das wollte Schwarz so nicht bestätigen. Was allerdings offenkundig war: Die Jungs aus dem Nachwuchs spielten mit viel Herz und Mumm, weil Hertha für sie eben nicht nur ein beliebiger Arbeitgeber ist.
Hertha will wieder auf eigene Talent setzen
Exemplarisch war das bei Dardais Tor zum 2:1 zu beobachten, einem Gewaltschuss aus mehr als 25 Metern, in dem ein Maximum an Herz und Mumm steckte. „Das war so irreal, irgendwie“, sagte der Innenverteidiger, der zuletzt im Dezember 2018, in einem U-17-Spiel gegen Holstein Kiel, ein Pflichtspieltor für Hertha erzielt hatte. Der Treffer gegen Gladbach „war der Bonuspunkt an seinem Geburtstag“, sagte Sandro Schwarz. Marton Dardai wurde am Sonntag 21.
In den vergangenen Tagen war Herthas Trainer immer häufiger nach Dardai und dessen Einsatzchancen gefragt worden. Bis Sonntag hatte der Innenverteidiger bei Schwarz kaum eine Rolle gespielt. Fünfeinhalb Monate waren seit seinem letzten und bisher einzigen Startelfeinsatz in dieser Saison vergangen, in diesem Jahr hatte Dardai noch keine Sekunde gespielt, beim Heimspiel gegen Wolfsburg nicht einmal im Kader gestanden. Warum also ausgerechnet jetzt das Comeback? Schwarz sagte, „dass Marton sich das verdient hatte“.
Dardai spielte von Anfang an, Ngankam kam zu seinem ersten Startelfeinsatz in dieser Saison, und Scherhant durfte aufs Feld, als die Partie in ihre entscheidende Phase ging. Vor seiner Einwechslung gab Schwarz ihm mit auf den Weg, dass heute doch ein guter Tag sei für sein erstes Bundesligator. Später bescheinigte er Scherhant, „ein lernwilliger Spieler“ zu sein, „ein super aufrichtiger, klarer Junge“.
Das sollte der Weg von Hertha in der Zukunft sein, junge Talente fördern und in den Profibereich bringen. Das Ganze mixen mit ein paar erfahreneren Spielern, die aber auch nicht älter als 25 Jahre sein sollten.
Schreibt Community-Mitglied fairplay180
Unter den Zöglingen aus Herthas Akademie, die am Sonntag Aufsehen erregten, ist Scherhant ein Sonderfall, weil er sich dem Klub erst in der A-Jugend angeschlossen hat. Andererseits ist sein Werdegang, zumindest bis zu diesem Punkt, leider auch typisch. Spieler wie er werden in der Jugend oft übersehen.
Scherhant ist im November geboren. Bedingt durch die Stichtagsregel heißt das, dass er es in der Jugend häufig mit Spielern zu tun hatte, die zum Teil fast ein Jahr älter waren als er. Wer dazu als Teenager noch ein wenig schmächtiger ist als seine Altersgenossen, der fällt leicht durchs Raster und verbringt die Spiele in der U 17 eben wie Scherhant bei Viktoria eher auf der Bank als auf dem Platz.
Schon im Jugendfußball werden Körperlichkeit und Athletik als wichtiger erachtet als fußballerisches Potenzial. Dass Derry Scherhant es trotzdem in die Bundesliga geschafft, sagt einiges: sowohl über seine spielerische Qualität als auch über seine Mentalität.
Zur Startseite