Eine Brücke nach Beirut

This Is Not Lebanon: vom 26.8. bis 12.9. im Mousonturm, Frankfurt am Main, www.mousonturm.de

Um zu begreifen, was in Beirut passiert ist, müsse man sich den Berlin-Vergleich vorstellen, sagt Matthias Lilienthal: „Kreuzberg und Neukölln wären im Wesentlichen zerstört“, getroffen von einer Detonation mit der Wucht einer kleinen Atombombe. Als der Hafen der libanesischen Hauptstadt vor etwas mehr als einem Jahr in die Luft flog, da wurden vor allem auch die angrenzenden Bezirke Karantina und Mar Mikhael in Mitleidenschaft gezogen – letzteres eines der wichtigsten Szeneviertel, Heimat vieler Künstler:innen und etlicher Probebühnen.

Weder die Stadt, noch ihre vormals blühende Kulturproduktion haben sich bis heute von diesem Schock erholt. Zumal die Lage im ganzen Land immer katastrophaler wird: „Es gibt pro Tag noch zwei Stunden Strom“, so Lilienthal, „wichtige Medikamente fehlen, täglich kommt es wegen der Benzinknappheit zu Schießereien an den Tankstellen“. Kurzum: „Der Staat ist quasi vollständig zusammengebrochen“.

„This Is Not Lebanon“ heißt ein Festival, das der Berliner Theatermann jetzt gemeinsam mit Anna Wagner und dem libanesischen Künstler Rabih Mroué kuratiert hat. Lilienthal – lange Jahre Leiter des HAU Hebbel am Ufer und zuletzt Intendant der Münchner Kammerspiele – besitzt selbst langjährige Ortserfahrung. Mehrfach hat er für das renommierte Beiruter „Home Works“-Festival gearbeitet, das vom Kunstzentrum Ashkal Alwan (übersetzt: das Haus der bunten Farben) ausgerichtet wird. Die vorerst letzte Ausgabe fand 2019 statt.

Wie kann sich eine Gesellschaft neu organisieren?

Damals fiel die Eröffnung zusammen mit den Aufständen gegen die Regierung, gleich nach dem ersten Abend mussten alle Veranstaltungen abgesagt werden. „Das Festival durchzuziehen wäre einem Streikbrechen gleichgekommen“, erzählt Lilienthal, „da gerät man sofort zwischen alle politischen Fronten“. Direkt neben seinem Hotel lag das Einsatzzentrum der schiitischen Miliz Hamal, die mit brennenden Autoreifen die Straßen blockierte.

Lilienthals gewohnte kuratorische Praxis – sich vor Ort in ein Café zu setzen und im Anderthalb-Stunden-Takt Künstler:innen zu treffen – war im Falle von „This Is Not Lebanon“ kaum möglich. Aber zusammen mit Mroué, Wagner und der Co-Kuratorin Christine Tohmé konnte er auch per Zoom ein Programm zusammenstellen, das vor allem einer jungen Generation libanesischer Künstler:innen zur Sichtbarkeit verhilft. „Es geht darum, überhaupt wieder Kulturproduktion im Libanon anzuschieben“, betont Lilienthal. Premiere feiert das Festival jetzt im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main. Im Oktober wird eine Auswahl des Programms mit Fokus auf den Nachwuchsarbeiten dann in Beirut im Ashkal Alwan zu sehen sein.

Zu den jungen aufstrebenden Künstler:innen zählt beispielsweise die Choreographin Ghida Hachicho, die in „Studies on the Movement of a Group“ der Frage nachgeht, wie sich eine Gesellschaft neu organisieren kann? Wofür sie unter anderem Tiervideos von Flamingos, Pinguinen oder Walrössern studiert hat. Während also auf der Bühne animalische Gruppendynamik nachperformt wird, konstruieren die Zuschauer:innen im Kopf dagegen die Organisation von menschlichen Gemeinschaften.

Ein ausgeprägt politisches Programm

Der Künstler Lawrence Abu Hamdan wiederum – Mitglied der in London beheimateten Gruppe Forensic Architecture – untersucht in der Lecture-Performance „Air Pressure: A Diary Of The Sky“ akustisch den Luftraum über Beirut, wo seit Monaten Überschalljäger der israelischen Armee dezibelstarke Präsenz zeigen. Eine Machtdemonstration, die Lilienthal an seine von russischen Düsenjets überdonnerte Westberliner Kindheit erinnert.

Überhaupt bietet „This Is Not Lebanon“ ein ausgeprägt politisches Programm: Marwa Arsanios besucht in der Videoinstallation „Who Is Afraid of Ideology?“ den Olivenhain ihrer Familie im Norden des Landes, um Fragen nach Geld, Besitz, Grund und Boden zu stellen. Bassem Saad und Sonja Grozdanic untersuchen das Agieren des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, unter anderem am Beispiel des Sondertribunals, das die Ermordung des früheren libanesischen Premieres Rafik Hariri aufklären soll. Und Noor Abed und Mark Lofty, Künstler:innen aus Ramallah und Alexandria, erzählen von einem, der früher der Hamas nahestand, inzwischen aber Waffentraining für die Amerikaner macht. Anpassungsfähigkeit ist ja auch eine Kunst.

Im Diskursprogramm des Festivals, das Rabih Mroué gestaltet, rückt unter anderem die Onlineplattform „Megaphone“ in den Fokus, die pionierhaft die Missstände im Libanon angeprangert hat. Herausgeber sind zwei Intellektuelle aus der älteren Generation, es schreiben dort aber ausschließlich Menschen zwischen 25 und 35 Jahren. Größtenteils auf Arabisch, hart in der Sache, vom Ton her aber ungewöhnlich poetisch.

Berlin als Ort des Exils

„Als würde man in Deutschland erbarmungslose Kritik in Gedichtform formulieren“, beschreibt Lilienthal. „Trotz des extremen Schocks der Explosion und der Forderung der Bevölkerung nach einem Austausch der politischen Führung hat sich im Libanon nicht das Geringste verändert“. Was etwa verhindere, dass Wirtschaftshilfen über das Nötigste hinaus flössen – in einem bankrotten Land, das jahrelang Staatsanleihen nach dem Schneeballsystem aufgelegt hat.

Scheint alles weit weg, ist es aber nicht. „Wir erleben im Moment einen regelrechten Exodus der intellektuellen und künstlerischen Szene Beiruts nach Berlin“, so Lilienthal. Erste libanesische Förderinstitutionen überlegten bereits, Zweigstellen an der Spree zu eröffnen, um hier Künstler:innen zu unterstützen. Überhaupt gewinne die Hauptstadt als Ort des Exils weiter an Bedeutung, mit Brücken auch nach Kairo, Bagdad oder Damaskus. „Berlin wird zum Zentrum von arabischen Denker:innen und Kulturschaffenden“, stellt der Kurator fest, „und ich würde mir wünschen, dass die Stadt fördernd damit umgeht“.