Die Verzögerung der Präzisierung
Manchmal gibt es das eine Bild, die eine Szene und den einen Satz, die bleiben, weil sie alles sagen. Die Menschen, die sich an startende Flugzeuge krallen, Menschen, die aus dem Himmel über Kabul fallen, das sind die Bilder, die nach 20 Jahren Afghanistan-Krieg dereinst unsere Erinnerung an diesen Krieg prägen dürften.
Und den Satz, der das Ende dieses Krieges zusammenfasst, den sprach Annegret Kramp-Karrenbauer, die mit beständigem Blick auf den Sprechzettel sagte: „Und wir werden die unverzüglichen und ohne Verzögerung durchgeführte Präzisierung der Planung der Auslösung der Vorbereitung der Mission seit letzter Woche, insbesondere seit Donnerstag letzter Woche noch einmal darlegen.“
Das Leben zum Verwaltungsakt machen
Tipps des Tages (1.): Vermeiden Sie Substantivierungen. Wir hatten das an dieser Stelle bereits: Verben beschleunigen Texte, und Substantivierungen entziehen Texten das Blut, da sie aus dem Leben einen Verwaltungsakt machen. Dies könnte übrigens das eigentliche Problem dieser Wochen gewesen sein: dass die Aufgabe, dort in Kabul präzise und geduldig fremde Menschen zu retten, zu einem bürokratischen Vorgang in weiter Ferne wurde, zu einer Akte und einer Datei, abgelegt und gespeichert in den Sommerferien von Berlin und Washington. Tipps des Tages (2.): Wenn Sie substantivieren müssen (nein, müssen Sie nicht … aber falls doch), dann tun Sie’s nicht mit ung-Endung und auch nicht in einer Reihe von Genitiven. Wirklich: nie.
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Haben Sie Joe Bidens Reden dieser Woche gehört? Tipps des Tages (3. bis 10.): Sagen Sie nicht „Afghanis“, wenn Sie „Afghans“ meinen. Geben Sie Fehler zu. Fühlen Sie etwas, außer dem Rausch des eigenen Egos? Zeigen Sie’s. Lassen Sie sich beraten, machen Sie nicht Ihren Vorgänger für Ihr Tun und Lassen verantwortlich. Wenn Boris Johnson am Freitag anruft, lassen Sie ihn nicht bis zum Dienstag warten. Treffen Sie keine Trump-Entscheidung, von Ihrer Laune und der Sorge ums Image getrieben, sondern, altmodisch: Bleiben Sie beim Eigentlichen, der Sache.
Der Einsatz hat wenig erreicht
Wichtig: Die Entscheidung, den Afghanistan-Einsatz zu beenden, meine ich nicht. Exakt das, was jetzt passiert, belegt, wie wenig dieser Einsatz erreicht hat.
Ich meine die Entscheidung, Symbole und öffentliche Wirkung wichtiger zu finden als Planung, Logistik, Koordination, Durchführung. Ausgerechnet Biden, der als sachlich gründlich gilt, wollte zum 20. Jahrestag der Anschläge, am 11. September 2021, die Amerikaner raus aus Afghanistan haben, diese Geschichte wollte er erzählen. Und Biden hat die Taliban unter- und die Bedeutung der USA überschätzt. 20 Jahre lang haben sich die USA über die Nachhaltigkeit des Einsatzes selbst belogen, um diesen immer wieder neu zu begründen: In 18 Monaten oder in zwei Jahren könnten die Taliban an der Macht sein, wenn’s schief laufe, das prognostizierten die Offiziere. Darum glaubte die Regierung, reichlich Zeit zu haben.
Joe Biden wird zu Jimmy Carter
Im militärischen Sinne war’s schlicht schlampig: In Afghanistan gibt es eine Kampfsaison, das ist der Sommer; und es gibt eine Kampfpause, das ist der Winter. Den Abzug zu Beginn des Sommers zu verkünden, das hat das Tempo dieser Tage herbeigeführt – die Taliban bestochen Stammesfürsten, horteten Waffen, waren kampfbereit. Warum nicht einen Stützpunkt behalten, wie seit 71 Jahren in Korea? Dann hätte das politische Afghanistan sich nicht verlassen gefühlt, es wäre nicht kollabiert, gewiss nicht so schnell.
Joe Biden wollte F. D. Roosevelt sein, Reformer und Entscheider. Stattdessen ist er nun Jimmy Carter, fern der Heimat gescheitert, daheim blamiert.
Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des MDR in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de oder auf Twitter unter @Brinkbaeumer