Guantanamo-Thriller zum Start der Berlinale
Einmal am Tag darf der Gefangene seine Zelle verlassen. Der Hof, auf den er von den Wärtern geführt wird, ist ein kleines rechteckiges Feld, mit Sichtblenden umzäunt und nach oben offen. Dort werden Mohamedouh Ould Slahi die Handschellen und Fußfesseln abgenommen, dort kann er davon träumen, eines Tages wieder ein freier Mensch zu sein.
Einmal plumpst ein Fußball auf das Feld, Slahi kickt ihn hoch, hält ihn jonglierend in der Luft und schießt ihn weg. Einmal geht er in die Knie, lugt durch eine Öffnung im Zaun und sieht einen Leguan, der direkt vor ihm in der Sonne hockt. Und einmal – das ist die vielleicht schönste Szene des Politthrillers „Der Mauretanier“, der die Sommer-Berlinale eröffnet – hört er so laut die Meeresbrandung, dass er die Augen schließt und seinen Körper im Rhythmus der Wellen wiegt. In diesem Moment scheint er sehr weit weg zu sein von den Gittern um ihn herum. Als wäre er frei.
Mohamedouh Ould Slahi, der vom französischen Schauspieler Tahar Rahim mit atemberaubender Intensität gespielt wird, war in Guantanamo inhaftiert, dem berüchtigten Gefangenenlager auf einem US-Marinestützpunkt in Kuba. In Guantanamo waren die Regeln des Rechts außer Kraft gesetzt, um dorthin deportiert zu werden, reichte der kleinste Verdacht, etwas mit den Terroranschlägen vom 11. September zu tun zu haben. Und wer verdächtig war, galt bereits als schuldig.
Der Film des britischen Regisseurs Kevin Macdonald basiert auf dem Tagebuch, das Slahi noch während seiner Inhaftierung veröffentlichte. Viele Szenen wirken beinahe dokumentarisch, das macht sie so beklemmend.
Als Slahi in Guantanamo eintrifft, muss er zusammen den anderen Neuankömmlingen auf dem Betonboden vor den Gebäuden niederknien. Sie tragen orangene Overalls, schwarze Kapuzen sind über ihre Köpfe gestülpt. Wärter in Marine-Uniform schreien ihnen Beleidigungen ins Ohr, Schäferhunde bellen. Fotos dieser Torturmethoden gingen um die Welt.
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Macdonald, der bereits mit „Der letzte König von Schottland“ über die Terrorherrschaft von Idi Amin und mit „State of Play“ über eine Intrige in Washington sein Gespür für politische Stoffe bewiesen hat, nimmt sich Zeit, um die Geschichte von „Der Mauretanier“ zu entwickeln. Der Film beginnt mit einer Hochzeit im November 2001, bei der Slahi von einem Polizisten angesprochen wird. Er solle mitkommen, „die Amerikaner möchten mit dir reden“. „Heb etwas vom Nachtisch für mich auf“, sagt Slahi noch zu seiner Mutter, bevor er dem Beamten folgt. Er wird sie niemals wiedersehen.
Ob Slahi tatsächlich unschuldig ist, bleibt lange unklar. Vieles spricht gegen ihn. Mit 18 hatte er Mauretanien verlassen, um in Deutschland Elektrotechnik zu studieren. Einige der späteren 9/11-Attentäter sollen bei ihm übernachtet haben. Und einmal hat ein Cousin mit dem Mobiltelefon von Osama bin Laden aus Afghanistan bei ihm angerufen. Für die CIA-Ermittler reicht das aus, um ihn zum „Al-Qaida-Chefrekrutierer“ zu erklären. Slahi sei so etwas wie ein Forrest Gump der Terrororganisation, sagt einer der Agenten, „wo immer du hinguckst, war er dabei“.
Die Schuldfrage ist der Rechtsanwältin Nancy Hollander, die Slahi vertritt, eher egal. Ihr geht es darum, die Prinzipien des Rechtstaates zu verteidigen. Jodie Foster spielt die Juristin, von der es heißt, sie kämpfe seit Vietnam gegen Washington, mit grauer Bob-Frisur, die ihr zusätzliche Strenge verleiht. Vor Gericht setzt sie durch, Akteneinsicht zu bekommen. Doch sind dann alle Seiten geschwärzt. Ihren Gegenspieler, einen Militärstaatsanwalt, verkörpert Benedict Cumberbatch. Anfangs fest davon überzeugt, dass Slahi ein Terrorist ist, mehren sich bei ihm im Lauf der Recherchen Zweifel.
Slahi darf bis heute nicht zu seiner Familie nach Berlin
Um ihn zu einem Geständnis zu bringen, wird Slahi in Guantanamo mit Folterpratriken traktiert, die der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld euphemistisch „Spezialmethoden“ nannte. Dazu gehören Schlafentzug, Prügel, stundenlange Beschallung mit Heavy-Metal-Musik und die Nahtoderfahrung des Waterboardings. In den 10, 15 Minuten, die diese Misshandlungen zeigen, ist „Der Mauretanier“ ein Horrorfilm.
„Irgendwann wird das mal ein Museum sein“, sagt die Anwältin bei einem Besuch in Guantanamo. Mohamedouh Ould Slahi wurde 2016 entlassen, ohne jemals angeklagt worden zu sein. Bis heute lebt er in Mauretanien und darf nicht ausreisen, auch nicht zu seiner Ehefrau, einer amerikansischen Menschenrechtsanwältin, mit der er seit 2019 einen Sohn hat. Schon Barack Obama hatte versprochen, das Lager zu schließen. Aber heute sind dort immer noch 40 Gefangene inhaftiert.
Ab Donnerstag auch indoor im Kino Central (OmU)