Der Sozialist empfiehlt Revolution mit Tomatensoße

Die Selbstsicherheit, mit der sich Martin Eden in der Welt bewegt, ist ein einmaliges Schauspiel, für das sein Darsteller Luca Marinelli 2019 auf dem Filmfestival Venedig ausgezeichnet wurde. Eine magnetische Anziehung strahlt seine Gestalt aus, Pietro Marcellos Verfilmung von Jack Londons autobiografischer Erzählung aus dem Jahr 1909 dreht sich um ihren Hauptdarsteller wie um ein Kraftfeld. Wie der Bug einer dieser Viermaster, mit denen Martin Eden die Meere befahren hat, stößt die eindrucksvolle Adlernase Marinellis aus der tosenden See des frühen 20. Jahrhunderts hervor.

Mit seiner gleichermaßen hochaufgeschossenen wie bulligen Statur überragt Luca Marinelli seine Umwelt, die speckige Lederjacke ordnet ihn irgendwo zwischen Proletariat und Halbstarkem ein. Gleich bei seinem ersten großen Auftritt auf einem Fest in den verzweigten Straßen Neapels ist er der Blickfang – für die jungen Frauen, die auf einen Tanzpartner hoffen, und die Kamera. „Ein schöner Mann“, schwärmen sie mit leuchtenden Gesichtern. Margherita (Denise Sardisco) lässt sich von ihm am Ende der Nacht in einer dunkle Ecke des Hafens verführen.

Marinellis körperliches Spiel kennt keine Grenzen. Martin fühlt sich unter seinesgleichen, den Arbeiterinnen und Arbeitern, genauso wohl wie in den prächtigen Villen des süditalienischen Adels. Auf seinen Reisen kritzelt er nachdenklich in ein Notizbuch, aber den Hafenarbeiter, der sich den Aristokratensohn Arturo Orsini (Giustiniano Alpi) vorknöpft, streckt er mit einem Schlag nieder. In der Oberschicht reicht ihm ein Moment zur Eingewöhnung, beim Streifen durch die Bücherregale beweist er intuitiv Geschmack.

„Baudelare“ hat es ihm angetan. „Baudelaire“, korrigiert Elena Orsini (Jessica Cressy), die alabasterhafte Tochter aus gutem Haus, den empfindsamen Grobian. „Einige seiner Gedichte waren sehr kühn“ – „Kühn bin ich auch“, entgegnet er mit entwaffnendem Grinsen. Martin will die Welt beschreiben, die er mit eigenen Augen gesehen hat, und er spürt eine Überlegenheit gegenüber den Intellektuellen, „Sie hatten das Leben in Büchern studiert, er hatte das Leben gelebt”, heißt es bei London. Dieser Hochmut wird sich als sein Untergang erweisen, als die Welt aus den Fugen gerät.

Pietro Marcellos zweiter Spielfilm nach dem pastoralen „Lost and Beautiful“, der den Niedergang des Landadels aus der Perspektive eines jungen Büffels erzählt, ist ein Wunderwerk. Seine ausufernde Erzähllust lässt vergessen, was man über die Konventionen der Literaturverfilmung zu wissen glaubt. „Martin Eden“ erinnert in vielerlei Hinsicht an Dominik Grafs „Fabian“: in seinem Hang zum Fabulieren und zur Kolportage, seiner Körperlichkeit, seiner romantischen Ader vor dem Hintergrund politischer und sozialer Verwerfungen.

Nur verwebt Marcello dort, wo Graf die Nahtstellen der Übergänge, die von Zeitläufen wie von Moralvorstellungen, roh belässt, sein Material zu einem visuell überwältigenden Pastiche des 20. Jahrhunderts. Sein Protagonist durchreist die Jahrzehnte nicht chronologisch – ein maßgeblicher Unterschied zu Bertoluccis vergleichbarem Großwerk „1900“ –, er ist gewissermaßen in allen Epochen zuhause. Die Mode, die Autos, die Filmmaterialien (vom zersetzten Nitrofilm des frühen Kinos bis zu körnigem 16mm in saturierten Farben) markieren eine Geschichtlichkeit, in der die Übergänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben sind.

„Martin Eden ist eine moderne Figur“, erklärt der Regisseur dann auch am Telefon. Pietro Marcello kommt es seltsam vor, nach zwei Jahren wieder über „Martin Eden“ zu sprechen, dessen Kinostart durch die Pandemie mehrmals verschoben wurde. Man erwischt ihn sonntagmorgens bei den Dreharbeiten zu seinem bereits übernächsten Film, einer Hommage an das französische Kino, wie er lachend meint. Doch „Martin Eden“ ist für Marcello eine persönliche Arbeit. Wie bei Jack London, der zunächst zur See ging und sich seine Bildung mühsam selbst aneignen musste, um zum gefeierten Schriftsteller zu werden, als den man ihn heute kennt (allerdings vorwiegend für seine Abenteuerromane), zeichnet „Martin Eden“ auch Marcellos eigene Geschichte nach.

„Mein Vater war Matrose”, erzählt er, „ich bin in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und habe nie eine richtige Schule besucht. Das ist die Geschichte meiner Generation, auch die von Maurizio Braucci, mit dem ich das Drehbuch geschrieben habe. Er war es, der mir in meinen Zwanzigern das Buch von Jack London gab. Seitdem ist es ein Teil meines Lebens.”

Marcello nennt „Martin Eden“ eine europäische Geschichte, in Amerika kam der Roman wegen der Sympathien des Autors für den Sozialismus nicht gut an. Die Verfilmung mit Glenn Ford von 1942 – als der radikale Individualismus (mit dem Schlüsseltext „Die ersten Prinzipien der Philosophie“ des befreundeten Herbert Spencer), den London kritisierte, Europa längst in die Katastrophe gestürzt hatte – ist heute fast vergessen.

Auch deswegen stand für Marcello fest, dass der Film an seinem Geburtsort spielt – und die zeitlichen Bezüge verwischt. Am Strand sitzen afrikanische Geflüchtete, während junge Faschisten mobilisieren. „Wir kommen aus einer anderen Erzähltradition als London oder Steinbeck, die Maurizio und ich lieben. Wir haben Primo Levi, Paolo Pasolini, Cesare Pavese. Darum war es für uns selbstverständlich, die Geschichte in unserem Universum anzusiedeln.“

Das gilt auch für die Texturen der Bilder, deren Herkunft (historisches Material und auf alt getrimmte Aufnahmen seiner Kameramänner Alessandro Abate und Francesco Di Giacomo) bewusst unkenntlich bleibt. „Ich bin ein Artisan“, sagt Marcello, „mich interessiert die Arbeit mit unterschiedlichsten Materialien. Archivbilder, meine eigenen Bilder, sie gehören alle zu einer Familie, dem Kino.“ Doch so atemberaubend hat selten ein Filmemacher das gesamte Spektrum des Kinos in einem Film vereint, „Martin Eden“ erstrahlt in unwirklich mediterranem Glanz wie auf alten Kodachrome-Urlaubsfotos.

Dieser Schönheit wohnt der Verfall inne. Auch Martin Eden ist am Ende verblüht, sein markanten Wangen sind knochig, die Augen eingefallen. „Meine Macht ist furchterregend, solange ich die Kraft meiner Worte der Welt entgegensetzen kann,” deliriert der Starautor, der die Klassenschranken überwunden hat, in morbider Visconti-Dekadenz. Der fesche Revolutionär, der am Tisch der Orsinis den Aufbruch der Arbeiterklasse mit Tomatensoße und Weißbrot demonstrierte, ist zum zynischen Wrack regrediert. „Martin Eden“, so Marcello, „ist ein Prototyp unserer Zeit, dem Zeitalter des Narzissmus. Er zeigt die Prüfung eines Künstlers, der reich und berühmt wird, dem Hedonismus verfällt.“

Am Ende hat sich Martin von seinen Idealen entfernt, für Bürgertum wie Arbeiterklasse empfindet der soziale Aufsteiger nur noch Verachtung. Fanal des Faschismus? Diese Ambiguität reizt Marcello: „Sehen sie sich Ernst Jünger an: ein Anarchist, ein Nationalsozialist – es ist kompliziert.” Jede Herkunft fordere auf ihre Weise einen Preis, meint er pathetisch. „Wenn man ohne Privilegien aufwächst, ist die Arbeit – ein Buch schreiben, einen Film drehen – ein Opfer.“ Mit „Martin Eden“ hat Pietro Marcello dem Kino nun seine Großzügigkeit erwiesen.

In fünf Berliner Kinos (auch OmU)