Düstere Realitäten
Bis zum 10. April, vollständiges Programm unter www.schaubuehne.de
Ein falscher Alarm, das ist ja im Moment eine gute Nachricht. An der Schaubühne haben höchst ungefährliche Bühnennebelschwaden, die vom Saal B in den Nachbarraum gezogen sind, die Rauchmelder aktiviert und die Feuerwehr auf den Plan gerufen. Weswegen das diesjährige Festival Internationale Neue Dramatik (FIND) mit leichter Verspätung beginnt. Ebenfalls eine Abweichung vom gewohnten Ablauf: Der künstlerische Leiter Thomas Ostermeier hält eine kurze Eröffnungsrede (normalerweise wird kommentarlos mit Kunst begonnen), die in einer Schweigeminute für die Ukraine mündet. Was durchaus mit dem Eröffnungsstück der diesjährigen FIND-Ausgabe zu tun hat. Wenn auch über Umwege.
In der Produktion „Is This a Room“ der New Yorker Regisseurin Tina Satter geht es um den realen Fall der Whistleblowerin Reality Winner (nomen ist hier nicht omen), die als Kryptolinguistin für die Air Force und später für eine mit der NSA verbandelte Firma tätig war. Dort fiel ihr ein geheimes Dokument auf, das die Einflussnahme russischer Stellen im Wahlkampf 2016 bewies. Winner leakte das ausgedruckte Papier an die Nachrichtenwebseite „The Intercept“, die es online stellte. Mit fatalen Folgen für die junge US-Amerikanerin – denn anhand des verborgenen Wasserzeichens, das jeder Drucker hinterlässt (gruselig genug!) konnte die Spur ziemlich mühelos zu ihr zurückverfolgt werden.
Satters Inszenierung fokussiert sich auf 70 Minuten im Leben von Reality Winner. Konkret: auf das Verhör, dem die damals 25-Jährige am 3. Juni 2017 in ihrem eigenen Haus in Augusta, Georgia durch das FBI unterzogen wurde. Auf einer leeren, holzstegartigen Bühne (Parker Lutz) wird das Transkript dieser Befragung durch drei Bundesagenten buchstabengetreu, inklusive Stotterer und Satzüberlagerungen, von vier großartigen Schauspieler:innen belebt: Becca Blackwall, Will Cobbs, Katherine Romans und Pete Simpson. Das Protokoll ist Krimi und absurdes Theater zugleich. In einer greifbaren Atmosphäre von jäh zerstörter Normalität spielen sich beide Seiten etwas vor – im Wissen, dass die jeweils andere die Scharade durchschaut.
Geschichten menschlicher Abgründe und Liebeslichtblicke
Reality gibt sich ahnungslos, die FBI-Agenten kumpeln sich auf schräge „Wir stellen ja nur Fragen“-Art an. Weite Teile des Gesprächs drehen sich nicht um etwaigen Geheimnisverrat, sondern um Haustiere, die keine Männer mögen (Winners Hund und Katze), Einkäufe, die in den Kühlschrank müssen, oder die örtlichen Fitnessstudios. Ein beklemmender Clash zwischen vordergründiger Belanglosigkeit und den unter der Oberfläche schwelenden Angelegenheiten von geopolitischer Bedeutung.
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Das FIND hat in diesem Jahr einen Amerika-Schwerpunkt. Der beschränkt sich allerdings nicht auf die USA, sondern setzt im Norden des Kontinents an. Aus dem kanadischen Québec stammt der Theaterregisseur, Autor, Schauspieler und Filmemacher Robert Lepage, der mit zwei Arbeiten eingeladen ist. Zum einen zeigt der Künstler die 2019er Neuauflage seines siebenstündigen Opus magnum „The Seven Streams of the River Ota“, das einen Bogen über die zweite Hälfte des katastrophischen 20. Jahrhunderts schlägt. Ausgehend vom Atombombenabwurf auf Hiroshima, verhandeln verschiedene miteinander verwobene Geschichten menschliche Abgründe und Liebeslichtblicke. „887“ wiederum – ein von Lepage selbst gespieltes Solo – führt zurück in den Wohnblock der eigenen Kindheit, ins Québec der 1960er und 1970er Jahre. Eine Berlin-Premiere.
Eher düster gefärbte Weltbilder
Aus Südamerika – genauer: aus Chile – kommt die Schaubühnen-Koproduktion „Oasis de la Impunidad“ von Regisseur Marco Layera. Der war schon 2019 beim FIND zu Gast, mit der Arbeit „Paisajes para no colorear“, in der es um die Lebensrealität von Frauen im Chile der Gegenwart ging. Diesmal verhandelt Layera mit seiner Kompanie Teatro La Re-sentida die Proteste gegen soziale Ungleichheit, die in seiner Heimat vor drei Jahren gewaltvoll auf der Straße eskalierten.
Dazu kommen in diesem Jahr Festival-Beiträge unter anderem aus Frankreich (die Dystopie „Fraternité, Conte fantastique“ von Caroline Guiela Nguyen) oder Belgien (Anne Cécile Vandalems Familienhöllenstück „Kingdom“), die ebenfalls eher düster gefärbte Weltbilder entwerfen.
In „Is This a Room“ kommt fast plötzlich im Verhörverlauf der Moment, in dem Reality Winner ihre Deckung fallenlässt und den Leak gesteht. Was jetzt mit ihr geschehe, will sie wissen. Wer sich um die Haustiere kümmere? Was die FBI-Agenten eher achselzuckend abtun. Nicht mehr ihre Angelegenheit. Per Übertitel wird die Antwort nachgeliefert: Reality Winner ist auf der Grundlage des sogenannten „Espionage Acts“ zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden. Ein mehr als fragwürdiges Gesetz aus dem Jahr 1917. Sicher nicht verkehrt, sich auch solche Realitäten zu vergegenwärtigen, während gerade so vollmundig die Wiedergeburt der wehrhaften Demokratien gefeiert wird.