Hier wird Weltgeschichte erzählt

„Ich bin es, die das Kind hat, ich, ich!“, ruft Hagar. Was sie meint: Ich, und nicht Sara, Abrahams eigentliche Frau. Viel hilft es ihr nicht: Nachdem Sara mit 90 Jahren und einer kleinen Anschubhilfe durch Gott doch noch einen Sohn – Isaak – gebärt, werden Hagar und ihr Kind Ismael von Abraham verstoßen. Die Episode taucht im Tanach wie im Koran auf, und da Ismael als Stammvater der Araber gilt, ist es Weltgeschichte, die hier erzählt wird.

Jüri Reinveres Chorwerk „Die Vertreibung des Ismael“ ist seit zwei Jahren fertig, konnte aber wegen der Pandemie erst jetzt im Kammermusiksaal uraufgeführt werden, mit dem Rias Kammerchor als Auftraggeber. Leiter Justin Doyle hat für die erste Konzerthälfte eine Fülle von kurzen Kompositionen versammelt, zusammengehalten durch Ritornelle Monteverdis. Sie setzen den spirituellen Ton, lassen anklingen, welche Verästelungen die biblischen Geschichten in späteren Jahrhunderten genommen haben.

Schuberts „Gesang der Geister über den Wasser“ ist dabei, ein Hymnus Hildegards von Bingen, die Klage Guillaume Dufays über den Fall Konstantinopels oder zwei sephardische Lieder. Was für ein inspirierender, auch geografisch weitausgreifender Abend!

Der Chor singt mit allergrößter Klasse

Manchmal vermisst man zusätzliche Klangfarben, das Ensemble Resonanz ist ein reines Streichorchester, und gerade bei mittelalterlicher Musik wünscht man sich mehr Perkussion. Zum „Tala’ al-Badru ’Alayna“, einem Lobpreis Allahs, tappsen die Musiker und Musikerinnen immerhin auf den Korpus ihrer Instrumente. Der Chor singt mit allergrößter Klasse: ein unteilbarer Klangkörper, bei dem die individuellen Stimmen wie schillernde Farbtupfer jederzeit hörbar bleiben, auftauchen, leuchten und vergehen.

Dann die Uraufführung: Flirrende, hektische Streicherbewegungen untermalen den Gesang von Hagar (Hildegard Rützel), doch Gegenspielerin Sara (Anja Petersen) scheint die unsympathischere der beiden Frauen zu sein. Im Zentrum steht das Volk, traditionell vom Chor gesungen. Es ist unzufrieden, flüstert, spricht. Reinvere sieht in der Geschichte von Hagar und Ismael eine universelle Parabel auf Ausgrenzung und Fremdenhass. Beide wurzeln, sagt er, in der Langeweile einer Gesellschaft, die nicht mehr schätzt, was sie hat. Stoff zum Nachdenken. Zwei berührende Zugaben, ein afghanisches Wiegen- und ein ukrainisches Kirchenlied, führen unmittelbar zurück in die aufgewühlte Gegenwart.