Eigentlich wollten wir Hryhoriy Skoworoda feiern
31. März 2022
Meine fünftägige Lesereise durch Thüringen ist zu Ende. Ich lese ein bisschen aus meinem Buch über den jüdischen Sound Deutschlands, aber vor allem aus meinen neuen Texten und keiner im Publikum regt sich auf. Unterhaltsam sind diese Texte nicht, aber es fühlt sich genau richtig an, daraus zu lesen. Anschließend stellt man mir keine Fragen. Es gibt keine. Nur Schmerz, Schock, Fassungslosigkeit.
In Meiningen trage ich auf der Bühne das T-Shirt, das ich im Charkiwer Literaturmuseum geschenkt bekommen habe als ich letztes Jahr dort zu Gast war. Ich verbrachte mehrere Stunden im Museum – auf der Suche nach passenden O-Tönen für das Album, das wir damals aufgenommen haben. In einem der Ausstellungsräume im zweiten Stock stand das Klavier, das Isaak Dunajewski gehört hatte, einem der wichtigsten Komponisten der frühen sowjetischen Ära, einem Juden aus Charkiw.
Ich übersetze einen Spendenaufruf
Ich durfte darauf spielen und nahm eine Melodie auf, die ich für den Song mit der Originalstimme von Mykola Bazhan verwenden wollte. Im Gegensatz zu den meisten ukrainischen Autoren, die wie Bazhan im Haus Slovo gewohnt haben, hat er die 1930er überlebt, deswegen gibt es im ukrainischen Rundfunkarchiv Audioaufnahmen von ihm. Die Stimmen seiner Nachbarn werden wir nie hören können, sie wurden leider nie aufgenommen.
Man hat alles dafür getan, dass sie in Vergessenheit geraten. Gut, dass es Bücher von ihnen gibt. Gut, dass sie inzwischen auch auf Deutsch erscheinen – gestern sah ich im Schaufenster eines Erfurter Buchladens das schöne bunte Cover von Walerjan Pidmohylnyjs Roman „Die Stadt“, dem Klassiker der ukrainischen Moderne, frisch ins Deutsche übersetzt, 85 Jahre nachdem sein Autor auf den Solowezki-Inseln erschossen wurde.
Als ich in Thüringen war, schrieb mir Lydia. Mit ihr und ihren Kolleginnen, den Mitarbeiterinnen des Literaturmuseums, habe ich noch im September 2021 Kaffee getrunken. Wir standen in der Sonne auf dem Balkon und redeten über unsere Projekte.
Für dieses Jahr plante man in Charkiw große Feierlichkeiten zum Jubiläum von Hryhoriy Skoworoda, dem 1722 geborenen ukrainischen Philosophen und Dichter, ich habe mich bereit erklärt, dafür Musik zu schreiben. Mir ist ein passender Titel eingefallen: SkoworoDance.
Noch vor wenigen Wochen hatte ich Kontakt mit Lydia, wir wollten einen Förderantrag einreichen und haben uns durch die Fragen des endlosen Formulars gekämpft. Seit dem 24. Februar ist das Literaturmuseum für Besucher geschlossen. Lydia arbeitet gerade an einem Video, einem Spendenaufruf an alle Freunde des Museums. Sie fragt, ob ich ihr mit der Übersetzung ins Deutsche helfen könnte.
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Ein diplomierter Übersetzer bin ich nicht, sage aber trotzdem sofort zu. „Die Verteidigung von Charkiw sowie der Charkiwer Region vor russischen Eindringlingen dauert nun schon länger als einen Monat. Die Streitkräfte der Ukraine, die Territorialverteidigung, die Zivilbevölkerung brauchen ständig qualifizierte medizinische Versorgung. Sie befinden sich immer im Bereich von Artilleriebeschuss, von Luft- und Raketenangriffen“, beginnt der Text.
Letzte Woche habe ich eine Interview-Anfrage von den Machern eines Podcasts über die Kultur der 1920er Jahren bekommen. Als ich mich darüber wunderte, haben sie mir erklärt, dass sie meine Texte im „Tagesspiegel“ lesen und gern mehr über das Haus Slovo und seine Bewohner erfahren würden, und auch über die ukrainische Musik, die es vor 100 Jahren gab. Ich sollte auch unser Album „Foxtroty“ vorstellen, sagten sie, schließlich sind die Songtexte davon in den 1920ern geschrieben worden.
Ich schaue mir Fotos meines letzten Charkiw-Besuchs an und aktuelle Bilder meiner Heimatstadt. In der Nähe des Slovo Hauses wurde wieder bombardiert, einige hundert Meter entfernt, wo mein Onkel und seine Familie wohnten. Ich kann mich schlecht konzentrieren, das passiert immer wieder, mir fällt mir nichts mehr ein, in keiner der Sprachen, die ich spreche.
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