400 Euro für einen Ziegelstein
Die Zahl machte schnell die Runde. Noch bevor die Art Basel offiziell eröffnet hatte, war bei Hauser & Wirth das erste Werk für 40,2 Millionen Dollar an einen Privatsammler verkauft. Louise Bourgeois’ Riesenspinne, deren lange dünne Beine die Kojenwände noch überragten, wurden zum Symbol eines noch mehr entfesselten Kunstmarktes als vor der Pandemie – obwohl sich doch alle Mäßigung vorgenommen hatten. Corona hat die Reichen eben noch reicher gemacht.
Der Kaufpreis für Bourgeois’ Werk war auch deshalb so bemerkenswert, weil er knapp unter dem Budget der Documenta lag, die in der gleichen Woche eröffnete. Weiter können zwei Welten nicht auseinanderliegen, sollte man meinen: in Basel das Business, in Kassel die reine Kunst. Doch das stimmte nie. Auf der zweiten Documenta 1959 durfte der Galerist Hein Stünke, der wenige Jahre später mit Rudolf Zwirner in Köln die Kunstmesse erfand, als Gegenleistung für seine Beratertätigkeit im Bellevue-Schlösschen, wo die Grafik ausgestellt war, Grafik verkaufen. Woran die Besucher:innen kurz zuvor vorbeigelaufen waren, wurde im Anschluss im gleichen Gebäude in zweiter, dritter Auflage angeboten.
Der Einfluss des Marktes war bei der Documenta sehr hoch
So eng und offensichtlich haben sich Documenta und Markt nie mehr verzahnt, doch die Verbindung blieb hinter den Kulissen bestehen. Einige Galeristen nutzten schamlos ihren Vorteil, wurden sie um Leihgaben eines ihrer Künstler gebeten. Ja, lautete so manches Mal die Antwort, aber unter der Bedingung, dass andere Künstler der Galerie, die noch Anschubhilfe brauchten, mitausgestellt würden.
Die Documenta wurde zum erweiterten Schaufenster der Galerie auch für Sammler, die Anschluss zur Biennale di Venezia und Art Basel weiterreisten.
Dort konnten sie variiert die zuvor gesehenen Werke erwerben. Die mit Galerieunterstützung produzierten Documenta-Beiträge standen im Anschluss an die 100 Tage in Kassel ohnehin zum Verkauf. Galeristen führten ihre Kunden deshalb gerne selbst durch das Fridericianum und die anderen Ausstellungsorte.
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Mit jeder Documenta wurde deshalb die Forderung lauter, dass der Einfluss des Marktes zurückgedrängt werden müsse. Die Durchsetzungskraft eines Kurators wurde nicht zuletzt daran bemessen.
Da die Documenta Fifteen alles anders machen will – statt Einzelkünstler holt sie Kollektive, statt Artefakte zeigt sie Prozessuales –, führt sie auch auf diesem Gebiet rigoros Neues ein. Das Kuratorengruppe Ruangrupa hat das Raumschiff Documenta auch ökonomisch in ein neues Zeitalter geschossen: Aus Kapitalismus wird bei ihr Ekosistem, ein zentraler Begriff im Konzept von Ruangrupa.
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Dahinter verbirgt sich die Idee eines nachhaltigen Kreislaufs von Waren und Werten. Naiv ist das Kollektiv aus Indonesien trotzdem nicht, was den Druck des Marktes betrifft, und erklärte deshalb die Documenta von vorneherein zur Verkaufsgalerie – nur nach ihren Gesetzen.
Ruangrupa will Gewinne gerechter verteilen
Ruangrupa arbeitet mit den ökonomischen Mechanismen, allerdings offen und nicht zur Steigerung des Profits. Nicht dem Vorteil des Einzelnen, sondern dem Nutzen aller soll das Geschäft dienen gemäß dem indonesischen Lumbung-Prinzip, das für die gesamte Documenta gilt: Die in die Reisscheune eingebrachte überschüssige Ernte wird untereinander geteilt beziehungsweise Bedürftigen zugewiesen. Da wird es allerdings kompliziert, auch rechnerisch, denn statt knallhart am Markt orientiert sich die Preisgestaltung an den Bedürfnissen der Kollektive und Künstler:innen.
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Für die Abwicklung der Deals der Lumbung-Gallery, wie die Abteilung ganz ungeniert heißt, hat sich Ruangrupa deshalb mit der Berliner non-profit Kunstplattform TheArtist zusammengeschlossen. Ein Barcode für die weitere Kontaktaufnahme prangt neben den Labels einzelner Werke, die es auf dieser Documenta trotz der vornehmlichen Darstellung gemeinschaftlicher Aktivitäten immer noch gibt.
Das Kollektiv Britto Arts Trust aus Bangladesh etwa hat einen Laden in der Documenta-Halle aufgebaut, der wie im Supermarkt Keramikobjekte feilbietet: Obst, das auf den ersten Blick wie eine Handgranate aussieht, Blumenkohlköpfe, die als Qualm aus Pistolen aufsteigen. Für den Spontankauf und kleines Geld lassen sich aus Automaten im Hübner-Areal Häkelblumen vom Britto Arts Trust kaufen. Ein Jahr über die Documenta hinaus behält die Lumbung-Gallery in Kassel ein Lager, sollte nicht alles verkauft sein.
Die Lumbung-Gallery könnte Schule machen, so stellen es sich die Macher vor. Denn hier wird ausprobiert, wie sich die Gewinne an alle Beteiligten gerechter verteilen lassen. Die Endlosliste der Genannten im Abspann eines Kinofilms gilt genauso für das Zustandekommen so mancher aufwändigen Installation. Der Beitrag eines jeden soll gesehen und fair entlohnt werden. Damit rücken die Künstler – als Hersteller des geschaffenen Wertes häufig das letzte Glied in der großen Abrechnung – ins Licht.
Das Geld geht in die Heimat oder an soziale Projekte
Wie soll das nun funktionieren? Vom Kaufpreis, der sich aus den Produktionskosten und dem gängigen Marktwert zusammensetzt, gehen 30 Prozent an die Lumbung-Gallery, 70 Prozent an die Künstler bzw. Kollektive. Diese teilen ihren Gewinn selbstständig auf. Die in den USA im Exil lebende Künstlerin Tania Bruguera etwa hat bereits klare Vorstellungen davon, wem sie in ihrer Heimat Kuba das Geld zukommen lassen will, um die dortige Protestbewegung weiter zu unterstützten.
Die indonesische Jatiwangi Art Factory wiederum will vom Verkauf einzelner Ziegelsteine, die in einer Vitrine im Hübner-Areal ausliegen, ein freigebliebenes Stück Land zwischen den Produktionsstätten zweier westlicher Sportartikel-Giganten erwerben, um dort aufzuforsten.
Der Backstein-Käufer in Kassel erwirbt für 400 Euro symbolisch 16 Quadratmeter indonesischen Regenwald und beteiligt sich am Widerstand. Sollten die Backsteine ausverkauft sein, hat eine Kasseler Ziegelei Nachschub versprochen.
Das Wajujuu Art Project träumt von einer Schule
Über die Ausschüttung des Lumbung-Topfs – ebenfalls für einen sozialen Zweck – entscheidet ein Gremium. Erste Wünsche sind bei Martin Heller bereits eingegangen, der als Mitbegründer von TheArtist zu den Betreibern der Lumbung-Gallery gehört. Das Wajujuu Art Project träumt von einer Schule schon für die eigenen Enkelkinder in Lunga Lunga, einem von Fabriken und Industrielagern eingekesselten Slum in Nairobi, wo das kenianischen Künstlerkollektiv seine Workshops für die Bewohner anbietet. Als Eingang für die Documenta-Halle schuf das Kollektiv einen Tunnel aus Wellblechtunnel, Soundkulisse sind Geräusche aus Lunga Lunga. „Come to our home“ lautet der Titel.
Und doch hat das System seine Grenzen. Zu den herausragenden Werken der Documenta gehört Hito Steyerls Film „Animal Spirits“ im Ottoneum, produziert für das spanische Kollektiv Inland und mitfinanziert von ihrer Berliner Galerie Esther Schipper. Das passt so gar nicht zur Idee des Kollektiven.
Im Film geht es um Schafe, Wölfe und einvernehmliches Leben mit der Natur, das ein „angry“ Hirte predigt. Als alternative Währung werden „cheesecoins“ in Spiel gebracht, die sich im kreisrunden Schafskäse verbergen, der im Garten des Ottoneums käuflich erworben werden kann. Mit Glück erwischt man darin eine der Münzen. Als alternatives Finanzierungsmodell ist dieses System allerdings selbst für die Documenta zu kompliziert.