Comeback von Everything But The Girl: Keiner weiß, dass wir tanzen

Wer nichts mehr zu verlieren hat, kann plötzlich alles erreichen. Weil er innerlich frei ist. „Nothing Left To Lose“ heißt der Song, mit dem das gerade erschienene Album „Fuse“ von Everything But The Girl beginnt. Sanft federn Beats, durch den Hintergrund irrlichtern bleepende und schnorchelnde Sounds, und Tracey Thorn singt: „I need a thicker skin / This pains keeps getting in.“

Sie wünscht sich ein dickeres Fell, um den Schmerz nicht mehr zu spüren. Sucht Rat, steht spät nachts vor der Tür eines Freundes. Und in dem Moment, in dem sie „Nothing left to lose“ seufzt, dröhnt ein Subwooferbass los. Die Wünsche werden konkreter. „Kiss me while the world decays / Kiss me while the music plays.“ Willkommen auf dem Dancefloor.

„Fuse“ ist das erste Album, das Everything But The Girl (EBTG) seit 24 Jahren veröffentlichen und es ist sensationell gut. Mit der Platte „Temperamental“ waren EBTG 1999 gewissermaßen von der Bühne abgetreten. Aber von einer Trennung kann keine Rede sein. Denn Leadsängerin Tracey Thorn und Songwriter Ben Watt (beide heute 60) waren ein Paar und blieben eins. Sie haben drei Kinder und leben im Nordlondoner Stadtteil Hampstead. Thorn nahm Soloalben auf und schrieb vier autobiografische Bücher. Watt brachte ebenfalls Solowerke heraus, arbeitete als DJ und gründete das Plattenlabel Strange Feelings Records.

„Home to be with you / Home to be near you“, lauten zwei Schlüsselzeilen aus dem Song „Caution To The Wind“. Meine Heimat, das bist du. Zu Science-Fiction-artigem Klanggestöber und gesampelten Handclaps beschwört Thorn eine funkelnde Sternennacht, so schön, dass alle früheren Nächte dagegen wie verschwendet erscheinen. Der Himmel – stellt die Sängerin fest – ist eine Kathedrale. Die romantische Theorie der Erhabenheit, übergehend in pumpende House-Rhythmen.

Auf „Fuse“ wird die Nacht oft gefeiert. „Forget the morning / This is the night“ heißt es in der minimalistisch elektronischen Mutmach-Ballade „When You Mess Up“. Sie hasse Leute, die ihr Ratschläge geben, wenn es ihr schlecht geht, klagt Thorn. Um dann ihrerseits andere, bessere Maximen zu formulieren: „Have a drink, talk too loud, be a fool in the crowd.“ Geh trinken, labere laut, mach dich zum Idioten. Die strahlend helle Synthesizer-Pop-Hymne „Time And Time Again“ erzählt von den frühen Morgenstunden als Zeitzone der Erkenntnis und des Neuanfangs.  

Aber das schönste Plädoyer für Zweisamkeit und Nähe spielt zu einer anderen Uhrzeit und heißt „No One Knows We’re Dancing“. Schauplatz ist Turin, es geht um einen Mann namens Fabio und eine Frau, die Amy heißt. Die Worte „Fiat Cinquecento“ singt Thorn mit einer Grazie, als läge ihr nicht die Automarke, sondern ein Renaissance-Gedicht auf der Zunge. Retrofuturistische Synthesizer tschackern, der Refrain geht so: „It’s 5 p.m. on Sunday / No one knows we’re dancing.“

Es ist fünf Uhr nachmittags am Sonntag, die Ausgeher liegen schon längst im Bett und ein Liebespaar tanzt und tanzt. Inspiriert wurde das Stück von den Sonntag-Nachmittagen, an denen Watt als Lazy Dog DJ-Sets im Keller des Notting Hill Arts Club absolvierte. „Der Laden war bevölkert von denkwürdigen Typen“, hat er in einem Interview erzählt. „Ich wollte sie beschreiben, ein bisschen wie Lou Reed in seinen Texten.“

Kennengelernt haben Ben Watt und Tracey Thorn einander 1981 in der nordenglischen Universitätsstadt Hull. Sie spielte bei den Marine Girls, er hatte eine EP veröffentlicht, an der Robert Wyatt mitwirkte. Beide besaßen einen Plattenvertrag des Indielabels Cherry Red. Sie nahmen eine Coverversion von Cole Porters Standard „Night And Day“ auf, der zum Ausgangspunkt und ersten Hit ihres Duos Everything But The Girl wurde, benannt nach der Werbung eines Möbelhauses.

Der Jazzpop mit gedämpften Trompeten und sanften Bossa-Nova-Rhythmen ihres bis heute hörenswerten Debütalbums „Eden“ passte in den Zeitgeist, die Tonspur führte zu Sade, Matt Bianco und The Style Council. Den endgültigen Durchbruch schafften EBTG 1994, als sie sich mit ihrem siebten Studioalbum „Amplified Heart“ der elektronischen Musik – Drum’n’Bass und Trip Hop – zuwandten.  Der Dance-Remix ihres Stücks „Missing“ vom US-Produzenten Todd Terry führte weltweit die Charts an. Mit „Amplified Heart“ hatte die Band auch eine Autoimmunkrankheit verarbeitet, an der Watt beinahe gestorben wäre.

Liebe zeigt sich nun darin, wie Ben Watt die Stimme von Tracey Thorn ins Zentrum der elf Songs von „Fuse“ stellt, sie von Klavierakkorden tragen lässt, auf Beats bettet, mit Klanggirlanden bekränzt. Die Sängerin verlor vor kurzer Zeit ihre Mutter, davon handelt die Trauerballade „Lost“. Sie beginnt sphärisch hallend mit der Zeile „I lost my mind last week“.

Worauf weitere Verluste folgen: „I lost my bags, I lost my perfect job, I lost my biggest client.“ Resultate, die Watt bekam, als er die Phrase „I lost“ ins Google-Suchfeld eingab. Dreimal nacheinander singt Thorn „I lost my mother“. Man spürt ihren Schmerz.