Ein Dämpfer für die gute Stimmung
Kay Bernstein nahm alles mit. Die Fans von Hertha BSC saßen bereits in den Shuttlebussen, die sie zum Braunschweiger Hauptbahnhof beförderten. Die Box auf der Vip-Tribüne, in der nahezu die gesamte Führung des Berliner Fußball-Bundesligisten das Pokalspiel verfolgt hatte, war längst leer. Nur Bernstein, der neue Präsident des Klubs, saß immer noch auf seinem gepolsterten Sitz.
Erst als direkt vor ihm auf dem Rasen die siegreiche Mannschaft des Zweitligisten Eintracht Braunschweig am Ende ihrer ausgedehnten Ehrenrunde auftauchte, stand er auf und verschwand.
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Gut zweieinhalb Stunden zuvor, kurz vor dem Anpfiff, stand Bernstein auf der Treppe der Tribüne. Er drehte sich noch einmal nach links, Richtung Berliner Fanblock, der üppigst gefüllt war, hielt den gestreckten linken Arm in die Luft und reckte den Anhängern die Faust entgegen.
Für Hertha BSC war es am Sonntagabend in Braunschweig das erste Pflichtspiel seit der Relegation im Mai. Seitdem ist einiges passiert. Neuer Trainer, neuer Präsident, vor allem aber ein neuer Geist, der den Klub durchdringen soll. Das hat nicht zuletzt mit Kay Bernstein, 41, zu tun, der vieles anders machen will als sein auf Distanz bedachter Vorgänger Werner Gegenbauer.
Von Aufbruchstimmung war daher zuletzt auffallend oft die Rede, von vorsichtigem Optimismus, sogar leichter Euphorie. Und dann das! Aus im Pokal gleich in der ersten Runde. Gegen den Vorletzten der Zweiten Liga. Nach einem 2:0 zur Pause und einer 4:3-Führung 90 Sekunden vor dem Ende der Verlängerung.
„Wir haben das komplette Programm mitgenommen“, sagte Schwarz
„Wir haben das komplette Programm mitgenommen, das man in so einem Pokalspiel mitnehmen kann“, sagte Sandro Schwarz, der neue Trainer. „Ein Extremerlebnis“ sei diese Begegnung gewesen. Extrem unterhaltsam, aus neutraler Sicht. Für Hertha aber mit dem 5:6 im Elfmeterschießen nach den Fehlversuchen von Marvin Plattenhardt und Marc Kempf vor allem extrem – schmerzhaft.
Dass viele Fans und Mitglieder sich von Bernstein ganz anders mitgenommen fühlen, dass sie sich wieder mehr mit ihrem Klub identifizieren, das ist das eine; dass über die Grundstimmung in und um einen Bundesligisten vor allem das Abschneiden der ersten Mannschaft entscheidet, das andere. Die Niederlage in Braunschweig, die Dramaturgie des Spiels, das wieder mal frühe Aus im Pokal: All das bedient natürlich bestens die alten Reflexe, die dieser Klub bei vielen auslöst. Hertha bleibt eben Hertha.
Für Sandro Schwarz ist das „eine menschliche Reaktion“. Aber er kann nichts für die Vergangenheit, genauso wenig wie die Spieler, die neu gekommen sind. „Das war in dieser Gruppe das erste Spiel“, sagte Herthas neuer Trainer. So hat er das auch am Tag danach der Mannschaft mitgeteilt: „Wir wollen nichts bewerten und auch nichts vergleichen, mit dem was vor unserer Zeit war.“ Und trotzdem sei es jetzt die große Kunst, „sich nicht nur von dem Ergebnis blenden zu lassen“, sagte Schwarz. „Das gehört natürlich zur Gefühlslage dazu. Dennoch gilt es, analytisch zu betrachten, was das Spiel hergibt.“
Der neue Trainer soll dem Team eine neue Haltung vermitteln: aktiv, mutig, dominant, nach vorne gerichtet. Von dieser Haltung war in Braunschweig schon einiges zu sehen. „Wir hatten viele, viele gute Sachen dabei. Das, was uns auszeichnen sollte“, sagte Schwarz. „In der ersten Halbzeit hatten wir eine sehr gute Dominanz. Das Programm wird einfach sein, das aufrechtzuerhalten über die komplette Spielzeit. Das ist das, was wir brauchen.“
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Vordergründig aber steht die Niederlage in Braunschweig in einer Reihe mit den Niederlagen in den letzten drei Testspielen, ebenfalls gegen zum Teil unterklassige Gegner. Die Probleme, die sich am Sonntag offenbarten, gab es auch schon in der Vorbereitung. Herthas Defensive lässt sich zu einfach auskontern, ist selbst mit schlichten weiten Bällen in Schwierigkeiten zu bringen. Von der Eintracht erstmals in der fünften Minute.
Obwohl sich die Berliner in letzter Linie mit ihren beiden Innenverteidigern nur einem Angreifer gegenübersahen, konnte Immanuel Pherai Herthas Torhüter Oliver Christensen umkurven. Letztlich klärte Dedryck Boyata gerade noch vor der Linie. Diese Szene war auch Schwarz in der nachträglichen Analyse sofort ins Auge gestochen. „Das war bei 4:31“, sagte er. „Da laufen wir schon nicht gut an und haben keinen Druck auf den Ball. Dann musst du schneller fallen mit der Kette, um in eine tiefere Position zu kommen.“
Hertha BSC braucht noch viele kleine Schritte
Bei der Vorstellung des neuen Trainers vor knapp sechs Wochen hat Herthas Sportgeschäftsführer Fredi Bobic vor überzogenen Erwartungen gewarnt. Die Neuausrichtung der Mannschaft benötige Zeit. Schwarz spricht am liebsten von einem Prozess, und solche Schwankungen wie in Braunschweig, hält er in diesem Prozess für durchaus normal. „Man hat gestern gesehen, dass wir viele kleine Schritte brauchen“, sagte er am Tag nach dem Spiel. „Wenn wir einfach Fußball spielen, mit einer guten Intensität, zielstrebig und unsere Geschwindigkeit nutzen, dann sind wir brandgefährlich. Wenn wir es kompliziert werden lassen, dann wird’s schwierig.“
Das ist die analytische Sicht auf die Dinge, aber natürlich gibt es auch eine emotionale. Veränderungen benötigen Bestätigung. „Ein 4:3 wäre echt geil gewesen“, sagte Schwarz.
Geführt, gestrauchelt, gekämpft, den Widerständen getrotzt: Bis 90 Sekunden vor Schluss sah es so gut aus für Hertha. Herthas Trainer lobte die „herausragende Mentalität“ seiner Spieler – trotz der Niederlage.
Diese herausragende Mentalität wird sich nun auch im Umgang mit der Enttäuschung zeigen müssen. „Die Grundstimmung: aufrecht“, forderte Schwarz von seiner Mannschaft. „Das ist extrem wichtig.“ Vor allem mit Blick auf das nächste Spiel, das erste der neuen Bundesligasaison. Das steht für Hertha am Samstag an. In der Alten Försterei. Gegen den 1. FC Union.