Jüdisch in der DDR: Betriebssystem Antisemitismus
Eine elegant gekleidete Frau hält ihre kleine Tochter an der Hand, daneben blickt ein junger Mann selbstbewusst in die Kamera, der Cousin des Mädchens. Der Himmel ist heiter-blau und kontrastiert gut mit den roten Fahnen, die die Fenster der Wohngebäude im Hintergrund schmücken und in den flammenden Kleidern der vorbeilaufenden Mädchen im Vordergrund wiederaufgegriffen werden.
Die Szene ist aufgrund der Straßenlaternen und des großen Turms eindeutig auf der Berliner Karl-Marx-Alle zu lokalisieren, die zum Zeitpunkt der Aufnahme, 1956, allerdings noch Stalinallee hieß. Jetzt sitzt Ruth Zadek, geboren 1953, in der Pressekonferenz zur Eröffnung der neuen Ausstellung „Ein anderes Land. Jüdisch in der DDR“ im Jüdischen Museum Berlin. Sie ist die kleine Tochter auf dem Foto, das sie dem Museum zur Verfügung gestellt hat – und das prompt zu einem tragenden Motiv dieser Ausstellung wurde.
Beiläufige Alltäglichkeit
Denn es wirkt frisch, wie aus dem Leben gegriffen, in seiner beiläufigen Alltäglichkeit bedeutsam – und es illustriert ganz gut, worum es hier geht: Jüdisch sein, Familienleben, Gemeindeleben, religiöse Prägung, aber eben auch ganz normales Einkaufen, vielleicht mit einem Eis für die Kleine – alles unter den Bedingungen eines sozialistischen Staates, dessen Symbolik immer anwesend ist. Jüdische Geschichte in Ostdeutschland spiegelt natürlich auch immer DDR-Geschichte. Das „Andere Land“, das war der Traum von einem antifaschistischen, humaneren Deutschland, den auch viele jüdische Rückkehrer geträumt haben.
Unter ihnen: Gerhard Zadek, Vater von Ruth und Fotograf dieser Aufnahme von der Stalinallee. Er hatte der Widerstandsgruppe um Herbert Baum angehört und war 1947 mit seiner Frau Alice, die später als Werkleiterin einer Wäschefabrik arbeitete, 1947 aus dem Exil in Großbritannien nach Berlin zurückgekehrt. „Ich finde es wichtig, daran zu erinnern, dass es eben auch einen jüdischen Widerstand gab, nicht nur einen kommunistischen“, erklärt Ruth Zadek jetzt in bestem Berlinerisch auf der Pressekonferenz.
Es gab auch einen jüdischen Widerstand, nicht nur einen kommunistischen.
Zeitzeugin Ruth Zadek
Die von Tamar Lewinsky, Martina Lüdicke und Theresia Ziehe kuratierte Ausstellung entstand aus der 2020 eröffneten neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums heraus, als die Kuratorinnen entdeckten, wie viel Stoff in der eigenen Sammlung zum Thema „Jüdisch sein in der DDR“ vorhanden ist. Ein Aufruf zu Beginn dieses Jahres erwies sich als ebenfalls recht ergiebig, so dass jetzt rund 220 Exponate zu sehen sind: Fotos, Filme, Gemälde, Grafiken, Skulpturen, Alltagsgegenstände.
Es beginnt mit dem Dichter Thomas Brasch – keine schlechte Wahl, ist diese jüdische Familie doch vielfältig mit der DDR-Geschichte verwoben, Vater Horst Brasch war stellvertretender Minister für Kultur, die drei Söhne und Tochter Marion versuchten auf je eigene Weise, sich davon abzusetzen.
„Was ich habe, will ich nicht verlieren“
Das den Beginn der Ausstellung markierende Gedicht „Was ich habe, will ich nicht verlieren“, entstand im Jahr 1976 und reflektiert Brasch‘ Übersiedelung nach West-Berlin in jenem Jahr, kann aber auch als Beschreibung der Unsicherheiten jüdischer Existenz im Allgemeinen gelesen werden: „Wo ich bin / will ich nicht bleiben, aber/die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber / wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber / wo ich sterbe, da will ich nicht hin: / Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin“. Brasch kehrt auch später wieder, in einer Fotograf von Roger Melis von 1973 und in einem Gemälde von Barbara Honigmann von 1997.
Im gleichen Raum ein Sprung zurück zu den Anfängen des Staates: Hanns Eisler singt mit für einen Komponisten erstaunlich brüchiger Stimme in Endlosschleife seine eigene Vertonung von Bertolt Brechts „Kinderhymne“ („Anmut sparet nicht noch Mühe“) aus dem Jahr 1950, die auch heute noch manche gerne statt des Deutschlandliedes als Nationalhymne sehen würden.
Es sind die Trümmer- und Aufbaujahre, eine Fotoserie von Abraham Pisarek dokumentiert die Großkundgebungen zum Gedenken an die Opfer des NS-Regimes aus den Jahren 1945-48 in Neukölln und im Lustgarten: Mitarbeiter des Jüdischen Krankenhauses laufen mit Transparent durch die Trümmer: „Wir ehren die toten Opfer des Faschismus“.
Das beschädigte, aber noch gut erhaltene Schloss als Kulisse, der Dom ohne Kuppeln, zehntausende Menschen mit Fahnen, unter ihnen ein Banner der Sportgruppe Hakoah: „Nach 9 Jahren wieder“. Eine gewaltige Urne auf einem Podest mit der Aufschrift: „Denkt daran! Auschwitz 4 Millionen Tote. Treblinka 3 Millionen Tote“. Es sind die Zahlen, die damals, kurz nach dem Krieg, kursierten. Was die historische Forschung heute ermittelt hat (Auschwitz: 1,1 Millionen, Treblinka: 900.000), ist schon entsetzlich genug.
Kleine Gemeinden
Was man sich klarmachen muss, um das Thema der Ausstellung richtig zu verstehen: Wie unglaublich klein die jüdischen Gemeinden in der DDR waren. Ein paar Tausend kehrten nach dem Krieg zurück, oft gab es weniger als 100 Mitglieder. Das erzählt eine weitere Zeitzeugin auf der Pressekonferenz, Renate Aris aus Dresden, geboren 1935. „Viele sind gleich in die Bundesrepublik gegangen, in der DDR gab es auch keine Wiedergutmachung, dazu kam der biologische Exitus“ – viele sind gestorben, Kinder gab es wenige. „Wir haben versucht, unsere Religion zu leben, unbehelligt.“ Bis heute schwärmt sie vom 1962 gegründeten Leipziger Synagogalchor, der eine große Außenwirkung gehabt habe.
„Wir haben versucht, unsere Religion zu leben, unbehelligt.“
Zeitzeugin Renate Aris
Durch die Ausstellung zieht sich die Audio- und Videoinstallation „Neuland“ von Yael Reuveny, in der Zeitzeugen zu Wort kommen, auch Ruth Zadek und Renate Aris. Ostberlin als größter jüdischer Gemeinde ist eine eigene Abteilung gewidmet, eine weitere Fotoserie von Mathias Brauner dokumentiert die verfallene Neue Synagoge in der Oranienburger Straße kurz vor der Restaurierung – und macht schmerzhaft deutlich, wie viel auch vom Innenraum noch da gewesen war, das man relativ leicht hätte wiederherstellen können.
Allerdings war die Gemeinde auch zu klein, um das gewaltige Gebäude mit Leben zu füllen. Für sie viel bedeutsamer waren die Synagoge in der Rykestraße, die koschere Fleischerei in Prenzlauer Berg oder der Friedhof in Weißensee – wo der Bau einer Magistrale, die das Areal gequert und zerstört hätte, verhindert werden konnte. Weitere Kapitel der Ausstellung befassen sich mit jüdischen Geschichten im Film und Fernsehen der DDR, mit den anderen Gemeinden in Dresden, Erfurt oder Halle und dem Verhältnis der Juden in der DDR zur Staatsführung.
Natürlich galt der offiziell verordnete Antifaschismus, doch das Verhältnis zu Israel als „imperialistischem“ Staat war ausgesprochen schlecht, und nach dem antisemitisch grundierten Prozess gegen Rudolf Slánsky in Prag, der 1952 hingerichtet wurde, fürchteten auch Juden in der DDR Repressalien. Gab es Antisemitismus, Hass, Hetze im Alltag? Renate Aris sagt: „So wahr ich hier stehe, habe ich das nie erlebt.“
Antisemitische Seitenhiebe
Ruth Zadek erzählt hingegen von den vielen kleinen antisemitischen Seitenhieben, die auch hier die Sprache durchzogen. Waren die Mädchen mal wieder zu laut, hieß es schnell: „Hier geht’s ja zu wie in der Judenschule“, und bei Auseinandersetzungen fiel auch immer wieder mal der Satz: „Dich müsste man vergasen“. Interessant ist die Meinung des 1985 in Berlin geborenen Videokünstlern Leon Kahane als Vertreter der jüngeren Generation: „Man hat vergraben, dass die DDR eben auch ein NS-Nachfolgestaat war, dessen Betriebssystem der Antisemitismus war. Das muss was mit den Juden machen.“
Was die Ausstellung nicht leistet und nicht leisten will, ist ein Vergleich mit der Situation der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik, überhaupt der Blick jenseits der Grenzen, etwa und gerade auch nach Israel, auch wenn die DDR-Presse mit eigenen Korrespondenten beim Eichmann-Prozess dabei war. Die unterschiedlichen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland seien in der Dauerausstellung groß berücksichtigt, hier habe man sich völlig auf die Innenschau konzentrieren wollen, erklären die Kuratorinnen.
„Ein anderes Land“ bietet auch keine Interpretationen des Gesehenen an. Die Objekte, Fotos, Erzählungen und Biografien sollen die Besucher zu ihrer eigenen Geschichte zusammensetzen. Nach dem Mauerfall begannen mit dem Zuzug von Juden aus den früheren Ostblickstaaten sowieso neue, andere Geschichten und Probleme, aber auch Perspektiven, gingen andere Mädchen an den Händen ihrer Mutter durch die Straßen. Das wäre wieder eine eigene Ausstellung wert.