Warum der Westen eine Dominanz seiner Werte behaupten muss
Wir leben in einer Als-ob-Welt. Das heißt, wir tun so, als ob die Erkenntnis, die wir haben, und die Moral, der wir folgen, seit Ewigkeiten gültig waren und bis in alle Ewigkeit gültig sein werden. Wir wissen aber, dass das nicht stimmt. Die Menschen in früheren Zeiten und entlegenen Regionen waren genauso von der Richtigkeit ihrer Ansichten über die Welt überzeugt, wie wir es heute sind – und wer weiß, was künftig gilt? Keiner.
Das klingt paradox. Dennoch gibt es zur Als-ob-Welt keine Alternative. Den Prägungen unseres Verstandes durch Zeit und Raum können wir nicht entkommen. Wir müssen so lange von der Evolutionslehre, den Erhaltungssätzen der Physik, Newtons Kraftgesetz, Keplers Gesetz der Planetenbewegung und den Berechnungen der Klimaforscher überzeugt sein – und zwar absolut überzeugt sein –, bis sie nicht widerlegt werden.
Ein ähnlicher Als-ob-Mechanismus ist im Bereich der Ethik wirksam. Wir sagen: Menschenrechte sind Grundrechte. Sie gelten universell, also für jeden Menschen, überall. Keine Einschränkung, etwa des Folterverbots, kann durch Verweis auf regionale oder kulturelle Besonderheiten gerechtfertigt werden. Die Meinungsfreiheit darf nicht zu Gunsten bestimmter religiöser Überzeugungen außer Kraft gesetzt werden. Die Tradition der Witwenverbrennung, wie sie immer noch bei den Rajputen in Nordindien praktiziert wird, ist ebenso abzulehnen wie die weibliche Genitalverstümmelung in vielen afrikanischen und mehrheitlich muslimischen Staaten.
Selbstbestimmung und Gleichberechtigung sind nicht verhandelbar
Als töricht weisen wir das Gerede vom „Menschenrechtsimperialismus“ zurück, der nur dazu diene, die weiße, westliche Wertedominanz zu sichern. Als falsch den Vorwurf einer moralischen Anmaßung. Körperliche Unversehrtheit, Religions- und Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung (inklusive sexuelle Selbstbestimmung) und Gleichberechtigung sind als Normen nicht verhandelbar.
Dennoch sind auch diese Normen historisch gewachsen. Aufklärung, Emanzipation, Rationalismus, die gesamte liberale Ordnung, einschließlich Demokratie und Rechtsstaatsprinzip, gelten, global und historisch betrachtet, nur auf kleinen Flecken der Welt und nur in einer sehr kurzen Zeitspanne der Weltgeschichte. Doch auch diese Normen setzen wir absolut und empfinden jeden moralischen Relativismus, der die Gültigkeit einer solchen Setzung infrage stellt, als Verrat.
Wie verträgt sich diese Bedingungslosigkeit mit dem Wissen, historisch selbst in Menschenrechtsverletzungen verstrickt zu sein? Wer tritt mit welchem Recht als Ankläger und Angeklagter auf? Sollen Franzosen sich lauthals über Menschenrechtsverletzungen in Algerien echauffieren? Sollen weiße Amerikaner die Kriminalitätsrate von schwarzen Amerikanern beklagen? Soll ein Vertreter des Vatikans die Homophobie in Uganda und Nigeria kritisieren?
Das Olympiastadion in den Regenbogenfarben?
Abstoßend ist auch die Instrumentalisierung der Menschenrechtsrhetorik. Plötzlich entdecken jene, die eigentlich nur „Ausländer raus!“ rufen wollen, wie gut sich der Vorwurf der Frauenfeindschaft, Homophobie und des Antisemitismus zur Stimmungsmache eignet. Was freilich nicht bedeutet, dass es in dieser Hinsicht nicht tatsächlich gravierende Probleme gibt. Und dient der Blick auf Gräueltaten in afrikanischen Ländern nicht auch gelegentlich dazu, von der eigenen kolonialgeschichtlichen Vergangenheit ablenken zu wollen?
Kurz nach dem Streit darum, ob das Münchner Olympiastadion beim Fußball-EM-Spiel gegen Ungarn in den Regenbogenfarben leuchten darf, sagte Wolfgang Schäuble im Interview mit „Politico“, Deutschland solle aufhören, seine östlichen Nachbarn zu belehren. „Warum glauben Deutsche, sie könnten den Polen beibringen, wie Demokratie funktioniert?“ Das sei respektlos, moniert der Bundestagspräsident, und es vertiefe die Spaltung Europas.
Respektlos. Das ist ein hartes Urteil, gefällt über Menschen, die sich gegen Diskriminierung wenden und sich für Demokratie, Rechtsstaat und sexuelle Selbstbestimmung einsetzen. Aber trifft Schäuble nicht einen Punkt?
Die Sieger zerstückelten den Körper
Nun kommt ein äußerst gewagter Sprung ins 18. Jahrhundert. Das ist lange her. Die Geschichte, um die es geht, ist durch mehrere Tagebücher der Mitreisenden verbrieft. Erzählt wird sie vom Naturwissenschaftler Georg Forster, der bei der Expedition dabei war, in seinem Buch „Reise um die Welt“ (Berlin, 1784).
James Cook war ein englischer Seefahrer und Entdecker. Er unternahm, im Auftrag Ihrer Majestät, drei Schiffsreisen in den Pazifischen Ozean. Seine zweite brachte ihn nach Neuseeland. Dort begegnete die Crew dem Stamm der Maori.
Folgendes trug sich zu: Einer der Maori war bei einer internen Fehde erschlagen worden. Die Sieger zerstückelten den Körper und verzehrten ihn teilweise. Cooks dritter Offizier kaufte einem Maori den Kopf des Erschlagenen ab und nahm diesen mit an Bord. Später kamen auch ein paar Maori an Bord. Georg Forster notierte den weiteren Verlauf:
„Sie verschlangen es mit der größten Gierigkeit“
„Sobald sie des Kopfes ansichtig wurden, bezeugten sie ein großes Verlangen nach demselben und gaben durch Zeichen zu verstehen, dass das Fleisch von vortrefflichem Geschmack sei. (…) Sie wollten es aber nicht roh essen, sondern verlangten, es gar gemacht zu haben. Man ließ es also in unsrer Gegenwart ein wenig über dem Feuer braten, und kaum war dies geschehen, so verschlungen es die Neu-Seeländer vor unseren Augen mit der größten Gierigkeit.“
Was bis heute an dieser Geschichte beeindruckt, ist der nüchterne, sachliche Ton, mit dem das Entdeckerteam die größten Grausamkeiten indigener Völker beschreibt. Von Empörung keine Spur. Den weitgehend wertfreien Schilderungen der Ereignisse folgen Erörterungen über den Kannibalismus, der in diesem Fall offenbar nicht durch extremen Hunger oder einen Mangel an Fleisch verursacht worden war. Man hatte es mit Kannibalen zu tun, das ließ sich nicht ändern.
Was ist die eigene Rolle, der eigene Maßstab?
Freilich gab es unterschiedliche Reaktionen. „Andere hingegen waren auf die Menschenfresser unvernünftigerweise so erbittert“, schreibt Forster, „dass sie die Neu-Seeländer alle tot zu schießen wünschten, gerade als ob sie Recht hätten, über das Leben eines Volks zu gebieten, dessen Handlungen gar nicht einmal für ihren Richterstuhl gehörten.“
Forster reflektiert die eigene Rolle und die eigenen Maßstäbe in diesem Konflikt. „Wir selbst sind zwar nicht mehr Kannibalen, gleichwohl finden wir es weder grausam noch unnatürlich, zu Felde zu gehen und uns bei Tausenden die Hälse zu brechen, bloß um den Ehrgeiz eines Fürsten oder die Grillen seiner Maitresse zu befriedigen. Ist es aber nicht Vorurteil, dass wir vor dem Fleische eines Erschlagenen Abscheu haben, da wir uns doch kein Gewissen daraus machen, ihm das Leben zu nehmen?“
Die Geschichte endet mit einer rhetorischen Frage, die als Appell an weniger Selbstgerechtigkeit verstanden werden soll: „Was ist der Neu-Seeländer, der seinen Feind im Kriege umbringt und frisst, gegen den Europäer, der zum Zeitvertreib einer Mutter ihren Säugling, mit kaltem Blut, von der Brust reißen und seinen Hunden vorwerfen kann? (Der Bischof Las Casas sah diese Abscheulichkeit unter den ersten spanischen Eroberern von Amerika.)“
Das abrupte Aufeinanderprallen zweier Traditionen
Zurück ins Jahr 2021. Die Jetztzeit mit ihren Normen ist unsere Zeit. Weil wir in ihr leben, müssen wir die Menschenrechte absolut setzen. Eine „reservatio mentalis“ (geheimer Vorbehalt) verbietet sich. Es ist richtig, universell geltende Werte zu haben und zu verteidigen.
Das Wissen um die historische Bedingtheit unserer normativen Ordnung verpflichtet indes zu einer Reflektion über den eigenen Status in der Als-ob-Welt. Forster und Cook verleugnen ihre Werte nicht, sondern vergewissern sich ihrer Rolle und Geschichte in dem abrupten Aufeinanderprallen zweier Traditionen. Respekt, Bescheidenheit, Fairness, Kampfesmut: Diese vier Eigenschaften müssen parallel harmonieren, wann immer universelle Normen eingeklagt werden.