Deutscher Filmpreis: 2023 ist ein guter Jahrgang
In Los Gatos im kalifornischen Silicon Valley dürfte man diesen Freitagabend im Theater am Potsdamer Platz wohl nur mit mäßigem Interesse verfolgt haben. Gut möglich auch, dass im Netflix-Hauptquartier niemandem erklärt wurde, wer diese Lola eigentlich ist. Der Deutsche Filmpreis verfügt wie das Kino, das er repräsentiert, über wenig internationale Strahlkraft. Und wenn dann mal wieder ein Film wie „Im Westen nichts Neues“ weltweit für Aufsehen sorgt, räumt der in Amerika und England gleich so viele Preise ab, dass die Verleihung der Lolas am Ende der Auswertungskette nur noch einen Restschein des Ruhms abbekommt.
Rein numerisch ist Edward Bergers Netflix-Produktion mit neun Auszeichnungen der erfolgreichste Film beim 73. Deutschen Filmpreis. Als gefühlter Sieger geht jedoch Ilker Çataks Satire „Das Lehrerzimmer“ aus dem Abend hervor, die die Goldene Lola gewinnt und seinem Regisseur zudem den Regie-Preis einbringt.
Mit dieser Dramaturgie ist zu Beginn des Abends noch nicht zu rechnen. Etwa nach zur Mitte der Show zieht die Moderatorin Jasmin Shakeri, die zuletzt schon in Karoline Herfurths „Einfach mal was Schönes“ allen die Show stahl, eine Zwischenbilanz für die „O.G.s“ im Haus, die Oscar-Gewinner: „Acht von zwölf! Was geht?“ In den technischen Kategorien hat „Im Westen nichts Neues“ das Feld bis dahin dominiert, die Preise für das Szenenbild und die Kamera waren ebenfalls zu erwarten. Und als nach Albrecht Schuch auch noch der Kinodebütant Felix Kammerer als bester männlicher Hauptdarsteller ausgezeichnet wird, zeichnet sich ein vertrautes Bild bei den Lolas ab. Wieder scheint der eine große Film des Jahres in der Gunst der 2000 Akademie-Mitglieder die Nase vorn zu haben.
Netflix rettet das Kino nicht
Dass bei dieser Lola-Verleihung etwas aber anders ist, spürt man schon recht früh am Abend – was nicht nur an der energetischen Moderation Shakeris liegt, die die Show mit einem Rap-Song eröffnet, unterstützt von der ehemaligen Breakdance-Crew The Flying Steps. Die Filmpreis-Zeremonie wirkt von Beginn an fokussierter als in den Vorjahren, mit niedrigem Peinlichkeitsfaktor und einer schlagfertigen Gastgeberin. Nicht zuletzt durch den Neuköllner Drehbuchautor und Podcaster Felix Lobrecht, der für sein Buch zu „Sonne und Beton“ leer ausgeht, wirkt die Veranstaltung streetsmarter, statt wie üblich nur dem großen Glamourversprechen hinterherzujagen.
Die Umstände sind in diesem Jahr allerdings auch außergewöhnlich. Erstmals dominiert mit „Im Westen nichts Neues“ der Streamingproduzent Netflix beim Deutschen Filmpreis – deren Teilnehmer auch in diesem Jahr nicht müde werden zu betonen, wie wichtig das Kino doch sei. Auch der Name Til Schweiger geistert nach den jüngsten Enthüllungen durch die Veranstaltung, die so auf Achtsamkeit, Offenheit und gegenseitige Rücksichtnahme bedacht ist.
Und dann befindet sich unter den Nominierten noch ein Film, der zwar im Iran spielt, der aber doch mehr mit Deutschland zu tun hat, als man sich eingestehen möchte. „Holy Spider“ von Ali Abbasi ist gewissermaßen der moralische Sieger des Abends, was die Akademie mit der Lola in Bronze belohnt.
Keine penetranten Lobreden
Möglicherweise wirkte der 73. Deutsche Filmpreis so entspannt, weil man sich in diesem Jahr endlich mal nichts beweisen muss. Der Zwang zur Selbstlegitimierung, der in früheren Jahren oft aus den penetrant optimistischen Lobreden auf das deutsche Kino herauszuhören war, erübrigte sich dank der Anwesenheit der „O.G.s“ von „Im Westen nichts Neues“. Edward Berger und sein hochdekoriertes Team sind Beweis genug, dass der deutsche Film über die Landesgrenzen hinaus noch Bedeutung hat.
Umso erfreulicher ist es dann, dass am Ende ein verhältnismäßig kleiner Film wie „Das Lehrerzimmer“ von der Filmakademie gewürdigt wird – wo die Schwarmintelligenz der Akademiemitglieder sich gewöhnlich, gerade bei den Hauptpreisen, um einen Film sammelt.
Dass Netflix für einige Stimmberechtigte ausschlaggebend gewesen sein könnte, „Im Westen nichts Neues“ nicht auch als besten Film auszuzeichnen, erscheint eher unwahrscheinlich. Dafür ist der Streamingproduzent schon zu sehr in der deutschen Filmbranche verankert. Interessanter klingt da schon das Problem, wie sich das Engagement der Filmakademie für das Kino mit einem Anbieter verträgt, der kein Interesse am Kino mehr zeigt.
Es ist nicht das einzige Thema, mit dem sich demnächst eingehender beschäftigen sollte. Ausgerechnet Volker Schlöndorff weist in seiner kurzweiligen Dankesrede für die Auszeichnung für seine Verdienste um das deutsche Kino (die Laudatio hält, via Zoom zugeschaltet, John Malkovich) auf die absurde Situation hin, dass immer wieder international gefeierte Filme durch das interne Auswahlverfahren der Filmakademie rutschen. Zwar fällt der Name Christian Petzold an diesem Abend nicht, aber die Kritik, dass „Roter Himmel“ es nicht einmal auf die Longlist geschafft hat, war in den vergangenen Tagen selbst von der neuen Akademie-Doppelspitze Alexandra Maria Lara und Florian Gallenberger als Baustelle erkannt worden.
Erinnerungen an Simone Bär
Und noch jemand ist an diesem Abend nur in Gedanken dabei. Im Grunde wird bei den diesjährigen Lolas die im Januar verstorbene Casterin Simone Bär gleich drei Mal ausgezeichnet: Sowohl Felix Kammerer als auch Leonie Benesch erwähnen sie in ihren Dankesreden, Ilker Çatak würdigte ebenfalls ihre Verdienste für seine Arbeit. Bei „Im Westen nichts Neues“ und in „Das Lehrerzimmer“ war Bär für die Besetzung verantwortlich. Manchmal erweisen sich die scheinbar leichtesten Aufgaben als besonders schwierig, auch das Sehen gehört dazu. Simone Bär hat diesen Blick für ihre Darstellerinnen und Darsteller gehabt: Kammerer, den sie von der Bühne des Burgtheaters vor die Kamera holte, und Benesch haben davon nun profitiert.
Ein paar kleinere Wermutstropfen gibt es an diesem Abend aber doch. Zum Beispiel die Tatsache, dass in der Kategorie Dokumentarfilm Cem Kayas ausgelassene Geschichte der deutsch-türkischen Popmusik „Liebe, D-Mark und der Tod“ dem biederen Jelinek-Porträt unterliegt. In solchen Momenten, so scheint es, merkt man wieder, dass in der Filmakademie Anspruch und Wirklichkeit hinsichtlich Diversität und Öffnung noch weit auseinandergehen.
Die Haltungsnoten sind an diesem Abend gut, aber der Weg bleibt beschwerlich. Es ist Ilker Çatak, der in seiner Rede betont, wie wichtig Vorbilder sind. Für ihn sei Fatih Akin ein großer Einfluss gewesen, er habe ihm gezeigt, dass man auch als deutsch-türkischer Filmemacher seine Geschichten erzählen kann. Vielleicht wird irgendwann mal jemand etwas Ähnliches über Ilker Çatak sagen. Allein schon wegen dieser Möglichkeit geht 2023 als ein guter deutscher Kinojahrgang durch.