„An einem schönen Morgen“ im Kino: Wenn das Leben entschwindet

Sandras Vater Georg Kiesler löst sich auf. Sein Gehirn zerfällt, er ist verwirrt, nahezu blind, seine Schritte sind klein und ängstlich, der Rücken tief gekrümmt. Als er seiner Tochter die Tür öffnen will, findet er den Schlüssel nicht, er gerät in Panik, vergisst, was Tür, was Schlüssel Tür ist. Was dem Philosophieprofessor im Leben das Wichtigste war, versagt: das Denken.

Die Krankheit ist eine „hinterhältig schleichende Schlange“

„Degenerativ, Degeneration, Verschlechterung, Erdbeben, Tsunami, hinterhältig schleichende Schlange“ – so hat der Vater seinen Zerfallsprozess in Folge einer neurodegenerativen Erkrankung in seinen krakeligen Notizen beschrieben. Der Text, der mit „Ausflug in eine seltene Krankheit“ betitelt ist (geschrieben hat ihn der Vater der Regisseurin Mia Hansen-Løve), wird gegen Ende von „An einem schönen Morgen“ von Georg (Pascal Greggory) im Voiceover verlesen. Seine Stimme in diesem Moment so fest und klar zu hören, ist tröstlich.

Die körperliche Hülle entfernt sich von dem Menschen, der er einmal war, immer mehr, aber sein Wesen existiert weiter: in seinen auf Papier gebrachten Gedanken, den Erinnerungen seiner Kinder und einem Fundstück von Satz, der vielleicht der Titel seiner Autobiografie hätte werden können. Und der dem Film auch seinen Titel leiht. Lebendig bleibt er ebenso in den Büchern seiner Bibliothek, die in die Hände seiner Studierenden übergehen. Bei seinen Büchern fühle sie sich dem Vater näher als bei der schwindenden Gestalt im Pflegeheim, sagt Sandra (Léa Seydoux) einmal. Der Blick fällt auf die Buchrücken in einem Regal: Hegel, Baudelaire, Musil, Kafka, Hölderlin, Bernhard, Adorno, Mann. So formt sich das Porträt eines Mannes und seines intellektuellen Lebens.

„An einem schönen neuen Morgen“ ist eine Fortsetzung der Themen, die die Filme von Mia Hansen-Løve seit ihrem Debüt „Tout est pardonné“ (2007) begleiten: Verlust, Abschied und Weiterleben, das Verstreichen der Zeit. Sandra, Übersetzerin, Witwe und Mutter einer kleinen Tochter, glaubt mit ihrem Liebesleben abgeschlossen zu haben, als sie Clément, einem alten Freund, begegnet. Während sie das Begehren wiederentdeckt, nähert sich die Existenz ihres Vaters dem Ende. Fließend werden die beiden Erzählstränge miteinander verwoben, „An einem schönen neuen Morgen“ ist ein Film voller Bewegung: Gespräche unterwegs, Ankommen und Aufbrechen, Trennungen, Abschiede. Ein einziges Kommen und Gehen.

Die Liebe gibt Sandras Leben eine neue Perspektive, die Umstände der beginnenden Beziehung aber sind kompliziert. Clément (Melvil Poupaud) ist verheiratet und Vater, ihr bleibt die Rolle der Geliebten. Frauen, die auf Männer warten, die um ihre Aufmerksamkeit bitten müssen, wegen ihnen weinen, sind in Hansen-Løves Filmen eine beständige Größe. Ihrem Kino sind Ansprüche, die heute immer häufiger an weibliche Figuren herangetragen werden – nach Handlungsmacht etwa –, fremd. Für ihre Bedürfnisse, auch ihre Bedürftigkeit, sollen sie sich nicht schämen. Seydoux, mit Rucksack und Allerweltpullis entglamourisiert und doch voller Strahlkraft, spielt Sandra ganz unweinerlich, auch wenn ihr die Tränen immer wieder in die Augen schießen.

Die Einfachheit eines Hirtenlieds

„An einem schönen neuen Morgen“ weidet sich nicht an den manchmal zum Heulen traurigen Momenten. Bei aller Nähe und Empfindsamkeit wird Distanz gewahrt, und die effiziente Knappheit, das Abbrechen von Szenen im richtigen Moment, geben dem Film etwas grundsätzlich nach vorne Gerichtetes. Wehmütig und trostreich zugleich ist auch ein wiederkehrendes Musikstück des schwedischen Komponisten und Jazzmusikers Jan Johansson. Es hat die Einfachheit eines Hirtenlieds und nimmt den schnörkellosen Stil der Erzählung auf. Hansen-Løve hat es aus Ingmar Bergmans Film „The Touch“ übernommen.

Dabei können die Umstände, in die der kranke Vater trotz Professorenrente gerät, schon erschüttern. Bei der Suche nach einem Platz im Pflegeheim wird er von einem tristen Provisorium ins nächste verfrachtet, er kann nur froh sein, dass er nicht sehen kann. So nah diese Szenen auch dran sind an der gegenwärtigen Realität des Gesundheitswesens, den Fragen der Pflege und Fürsorge: ein Themenfilm wird in keinem Moment daraus. Ebenso wenig wie die Geschichte mit Clément ein Dreiecksbeziehungsfilm wird. Nichts verfestigt sich, alles bleibt im Fluss.

Das Autobiografische, das bei Hansen-Løve zuletzt mit „Bergman Island“ in eine meta-reflexive (und auch ein wenig privilegierte) Erzählhaltung ausfranste, findet in „An einem schönen Morgen“ ganz ungekünstelt und konkret Ausdruck. Die Großmutter der Filmemacherin hat einen schönen Auftritt, sehr lebensnah spricht sie von den Schwierigkeiten eines langen Lebens, den Mühen des Treppensteigens und wie man mitleidigen Blicken mit Würde begegnet. „Es ist manchmal ein wenig schwierig … zu leben“. Sie sagt es mit Leichtigkeit.

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