Proustbetrieb: Tage des Lesens
Es ist gerade die Zeit, da viele Menschen glauben, jenseits der Familienfeierlichkeiten endlich wieder einmal zum Lesen kommen zu können. Zeit der Muße. Oder auch: Tage des Lesens. Genau so war ein Beitrag überschrieben, den Marcel Proust im März 1907 für den „Figaro“ schrieb, „Journées de lecture“.
Nur geht es darin soviel gar nicht ums Lesen an sich. Proust hat etwas gelesen, das schon, er rezensiert die Erinnerungen der Gräfin von Boigne, die natürlich heutzutage kein Mensch mehr kennt. In der vom „Figaro“ gedruckten Fassung beginnt Proust mit der Einschätzung, dass viele Bücher gerade jetzt so viele Leserinnen und Leser finden würden, weil es so viele Kranke gebe. Kein Schelm, wer dabei an unsere unmittelbarste Gegenwart denkt.
Man liest nur in äußerster Not. Man telefoniert zuvor ausgiebig.
Marcel Proust in „Journées de lecture“
Doch der französische Schriftsteller schränkt in seinem Text sofort ein: „Gewiss, wenn man nicht ausgehen kann, würde man lieber empfangen als lesen.“ Nur weiß er auch, in Zeiten grassierender Viruserkrankungen: Besuche sind eher nicht anzuraten. Anstatt nun aber das Lesen als Gebot der Stunde zu feiern schlussfolgert Proust: „Man liest nur in äußerster Not. Man telefoniert zuvor ausgiebig.“
Der Zauber von Kindheitslektüren
Aus den „Tagen des Lesens“ wird so in dem „Figaro“-Artikel zunächst ein Stück über das Telefonieren und die Frauen in den Telefonzentralen, (was später in „Guermantes“ einging), über das mondäne Leben und das Schreiben, über Namen und die Nachwelt, über „die Königinnen der Eleganz“ und dass auf dieser Welt wirklich gar nichts verloren geht. (Tatsächlich hatte der „Figaro“ eine große Passage aus dem Text von Proust gestrichen, die viel später Anfang der siebziger Jahre erstmals veröffentlicht wurde.)
So schön und lehrreich das alles ist: Man ist doch auch verdutzt. Tage des Lesens? Die Verheißung des Titels ist eine große. Aber genau über solche Tage hatte Proust schon zwei Jahre zuvor geschrieben und zwar in der Zeitschrift „La Renaissance Latine“. Ein Jahr später gab er den Essay seiner John-Ruskin-Übersetzung „Sésame et les lys“ als Vorwort mit.
„Sur la lecture“ war dieser überschrieben, woraus irgendwann im Deutschen nicht „Über das Lesen“, sondern irritierenderweise ebenfalls „Tage des Lesens“ wurde. Hier erzählt Proust vom Lesen in der Kindheit, von dem Zauber der Orte, an denen er las, vom Ärger, wenn er abbrechen musste. Und von der Hoffnung, beim Blättern in den Büchern von damals „auf ihren Seiten die nicht mehr existierenden Wohnstätten und Teiche“ widergespiegelt zu sehen.
Vielleicht geht es dem einen oder der anderen in einer fernen Zukunft ebenfalls so: sich nämlich der Lektüren gerade dieser Tage zu erinnern, ihrer Orte und Umstände. Was in der Regel immer dann der Fall ist, wenn das Buch ein besonderes ist, ein beeindruckendes. Eins, das nachhallt
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