Der traurige Lauf der Caster Semenya

Noah Lyles wirbelte mit seinen Händen, forderte die Zuschauer im Berliner Olympiastadion vor dem 100-Meter-Lauf zu mehr Lärm auf. Dabei war der Geräuschpegel vor 37.000 Zuschauerinnen und Zuschauern am Sonntag beachtlich. Aber ein bisschen mehr geht immer. Der US-Amerikaner Lyles gewann dann auch in 9,95 Sekunden und warf anschließend ein paar Kusshände ins Publikum.

Der Tag beim Leichtathletikmeeting Istaf hatte nicht mit den großen, sondern mit den kleinen Stars begonnen, den Schülerstaffeln. Diese genossen den Jubel der Zuschauer, einige sogar so sehr, dass sie einen Frühstart fabrizierten und trotz des von den Kampfrichtern abgebrochenen Laufs bis ins Ziel rannten. Von der Atmosphäre beschwingt war auch der Parasportler Niko Kappel vom VfB Stuttgart, der anders als derzeit die Fußballer des Traditionsvereins siegen kann. Die Konkurrenz im Kugelstoßen gewann er mit einer Weite von 14,27 Metern.

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Es war ein schöner Auftakt für das dicht gedrängte Programm, das mit einigen Ausfällen zu kämpfen hatte. Gina Lückenkemper und Konstanze Klosterhalfen, beide zuletzt siegreich bei den Europameisterschaften in München, mussten angeschlagen absagen. Lückenkemper kam trotzdem und wollte laut eigener Aussage den Weltrekord im Autogrammschreiben brechen.

Auch ohne Lückenkemper und Klosterhalfen auf der Bahn hielt das Istaf einige Top-Stars der Leichtathletik bereit. Zum Beispiel im Diskuswerfen der Frauen. Die Potsdamerin Kristin Pudenz, Zweite bei den Olympischen Spielen in Tokio, traf auf die US-Amerikanerin Valarie Allman, Erste in Tokio. Pudenz schaffte bei ihrem zweiten Versuch 65,20 Meter. Allman konterte mit 69,14 Metern und setzte mit 70,06 Metern (der zweitbesten Weite in diesem Jahr) im sechsten Durchgang noch einen drauf. Feuerfontänen schossen aus dem Rasen des Olympiastadions, das erste Highlight war erfolgt.

Dabei wäre der Abschied von Nadine Müller fast ein wenig untergegangen. Die 36-Jährige beendete am Sonntag ihre lange und auch international außerordentlich erfolgreiche Karriere. Ihr letzter Wurf landete im Netz. Die Zuschauer jubelten trotzdem und Müller rief kurz darauf ins Stadionmikrofon: „Danke, Berlin. Ihr seid der Hammer!“ Danach flossen – auch bei ein paar ihrer Mitstreiterinnen – die Tränen.

Das Istaf ist das gefühlige Leichtathletikmeeting

Das Istaf bildet jedes Jahr für viele Athleten den Schlusspunkt der Saison. Das Meeting ist daher besonders gefühlig. Gerade für die deutschen Athletinnen und Athleten war 2022 ein spezielles Jahr. Spott und Häme ergossen sich über sie nach den Weltmeisterschaften im Juli in Eugene, die mit zwei gewonnenen Medaillen in einem Debakel endeten. Als sämtliche Abgesänge auf die deutsche Leichtathletik geschrieben waren, folgten die Europameisterschaften in München. Die deutschen Athleten gewannen insgesamt 16 Medaillen, darunter Goldmedaillen wie jene von Lückenkemper über 100 Meter oder Richard Ringer im Marathon, mit denen kaum jemand gerechnet hatte. Zur besten Sendezeit feierte die deutsche Leichtathletik vor einem Millionenpublikum im TV ihr Comeback. Auch das war der Grund, weshalb am Sonntag fast 40.000 Zuschauerinnen und Zuschauer ins Olympiastadion gekommen waren.

Ein paar Helden aus München waren schließlich dabei. Speerwerfer Julian Weber, Goldmedaillengewinner in München, duellierte sich unter anderem mit Zehnkampf-Europameister Niklas Kaul. Mit einer Weite von 84,90 Metern gewann er die Konkurrenz im Olympiastadion, Kaul schlug sich tapfer und kam auf 71,34 Meter.

Coronageschwächt zu Silber reichte es für Malaika Mihambo bei der EM. Am Sonntag in Berlin lag sie ganz vorne. Schon bei ihrem Versuch landete sie bei 6,92 Metern, der Siegesweite. „Ich freue mich, dass ich nach Corona so schnell wieder so gut bin“ , sagte sie.

Einzig der 5.000-Meter-Lauf der Frauen tat so manchem Beobachter etwas weh beim Zuschauen. Mit am Start war Caster Semenya. Die zweimalige Olympiasiegerin müsste ihren Testosteronwert künstlich senken, um über ihre Spezialdisziplin 800 Meter an den Start gehen zu können. Das tut die 31-Jährige aber nicht, weshalb sie auf Strecken wie über 5000 Meter ausweicht, die sie laufen darf. Doch über diese Distanz ist sie hoffnungslos unterlegen. Am Sonntag wurde sie sogar von den Führenden Beatrice Chebet und Elly Henes überrundet und landete abgeschlagen auf dem letzten Platz. Es war ein trauriger Auftritt. Das Berliner Publikum zeigte großes Herz und feuerte die Südafrikanerin auf ihren letzten Metern lautstark an. Und wieder kullerten ein paar Tränen.