Das Banjo und die Papiertüte

Zwei Zeilen aus der Single „Black Myself“ von Amythyst Kiahs gerade erschienenem Album „Wary + Strange“ (Rounder Records) gehören zu den wichtigsten, die in der US-amerikanischen Roots-Musik in diesem Jahr gesungen wurden.

Sie lauten: „I don’t pass the test of the paper bag, cause I’m black myself. I pick the banjo up and they stare at me, cause I’m black myself.“

Von zwei Dingen wird hier erzählt. Zunächst einmal von struktureller Diskriminierung: Der „Brown Paper Bag Test“ ist ein Motiv aus der amerikanischen Geschichte, das eine Praxis aus dem 19. und angehenden 20. Jahrhundert beschreibt, nach der die braune Papiertüte die Grenzlinie gewesen sein soll, anhand derer von Weißen, aber auch innerhalb der afroamerikanischen Community bestimmt wurde, wer ein akzeptabler, weil heller, und wer ein angeblich zu dunkler Schwarzer war.

Die Zeile mit dem Banjo hingegen bezieht sich auf eine simple Wahrnehmungsverschiebung: Das Banjo ist ein Musikinstrument, das einen westafrikanischen Ursprung besitzt, der bei dessen steigender Popularität in der Country- und Bluegrassmusik des 20. Jahrhunderts aber nur selten Erwähnung fand und bis vor einigen Jahren kaum erforscht wurde.

Die junge Amythyst hörte gern Green Day

Das heute über solche Dinge geredet wird, ist auch ein Verdienst von Kiah: Gemeinsam mit den Folk-Musikerinnen Rhiannon Giddens, Leyla McCalla und Allison Russell nahm sie vor zweieinhalb Jahren das Album „Songs Of Our Native Daughters auf, das die Identität Schwarzer Frauen im Amerika der letzten Jahrhunderte reflektierte.

„Ich denke, das ‚Our Native Daughters’-Projekt hat da vielen Leuten die Augen geöffnet“, sagt sie am Telefon, um anzufügen: „Es geht nicht darum, Besitzansprüche zu erheben. Es geht viel eher darum, das Banjo als Teil nicht nur der amerikanischen, sondern auch der Schwarzen Geschichte zu lesen.

Denn das fantastische an der amerikanischen Musikgeschichte ist doch, dass es so viele verschiedene Einflüsse aus der ganzen Welt gibt. Wenn wir wahrnehmen, dass die Gitarre aus Spanien kommt, können wir auch wahrnehmen, dass dieses Instrument aus Westafrika stammt.“

Amythyst Kiah kann fesselnd von diesen Dingen erzählen. Davon, wie die Musikindustrie die Trennung zwischen „Race Records“ und „Hillbilly Records“ vornahm, also Musik aus weltanschaulichen wie aus Vermarktungsgründen ethnisch voneinander separierte und so Schwarze Musiker dazu brachte, den Blues zu spielen. Davon, wie Schwarze in den sogenannten „Minstrel Shows“ verhöhnt wurden und wie die Schwarzen, die doch bei Country-Produktionen mitwirkten, totgeschwiegen wurden. Sie weiß um diese Dinge, weil sie sich mit ihnen beschäftigt hat. Ihr Vater war Berufsmusiker und Audiophiler, legte ab und an auch mal Alben von Dolly Parton oder Charly Pride auf den Plattenteller.

Die junge Amythyst hörte lieber Green Day oder Radiohead. Erst während ihres Studiums an der East Tennessee State University legte sie den Schalter um – zunächst, ohne es selbst zu bemerken. Sie schrieb sich für Kurse ein, etwa Bluegrass und Gitarre, später für die Geschichte der sogenannten „Old Time Music“.

Auch bei Moby ist sie zu hören

Unter diesem Begriff fasst man, grob gesagt, jene Art Folkmusik zusammen, die in in den ersten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts aus den Appalachen kam. „Im College musste ich noch herausfinden, wer ich überhaupt war und wo ich hinwollte. Ich fühlte mich wie ein Outsider.

An der Uni fing ich dann an, über die Ursprünge amerikanischer Musik zu lesen und erkannte, welche Beiträge meine Vorfahr*innen nicht nur für die Entwicklung von R’n’B und HipHop leisteten, sondern auch im Country und Bluegrass. Das war für mich eine Erweckung.“

Amythyst Kiah fing an, selber in Bands zu spielen. Sie machte sich mit Studiotechnik vertraut, lernte nicht nur Banjo, sondern auch, wie man seine Kreativkraft wirtschaftlich begleitet, sie in ein Unternehmen überführt, „denn das bist Du als Künstler*in: Unternehmer*in.“

Bis sie sich selbst vertraute und nicht mehr gegen die Dämonen in ihrem Kopf kämpfen musste, dauerte es ein wenig. Und doch erschien 2013 ein erstes Album: „Dig“ ist eine recht reduzierte Angelegenheit, die zehn Songs, teilweise Eigenkompositionen, teilweise Cover, gruppieren sich um Kiahs Stimme.

In den Folgejahren machte sie sich in den USA einen Namen. „No Depression“, das US-amerikanische Zentralorgan für Americana, schrieb schon 2016, man werde diesen Namen bald auf den „Marquees“, den Leuchtschildern vor den großen Hallen, sehen.

Seitdem sind weitere fünf Jahre ins Land gezogen. Aber jetzt ist sie da, die Wertschätzung. Das „Our Native Daughters“-Projekt war sicher ein Booster, ein weiterer: Kiah ist auf dem aktuellen Moby-Album zu hören, sie gibt gemeinsam mit Gregory Porter der Neuversion von „Natural Blues“ neue Wucht. Auch auf „Wary + Strange“ wird die Reduktion ihrer ersten Aufnahmen zwar nicht abgelegt, aber von weiteren Stilmitteln flankiert. Es wird mit Blues, mit Rock, mit Rhythmik jongliert.

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Die involvierten Musiker sind hochkarätig, unter anderem mischen Blake Mills (Alabama Shakes, Bob Dylan) und Wendy Melvoin (Prince & The Revolution) mit. Wobei, auch das ist für Kiah neu: Sie lernte, während der Aufnahmen an dem Album loszulassen: Ihrem Produzenten und ihren Musikern zu vertrauen.

Sich auf das zu verlassen, um dessen Qualität sie weiß: ihre Songs und ihre Stimme. Man hört diese Selbstsicherheit, nicht nur im eingangs erwähnten „Black Myself“. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch das Album, vom Opener, dem schwebenden „Soapbox“ bis zum abschließenden, mit Blues-Patterns spielenden „Opaque“.

Ein Album wie ein kleines Wunder. Für Kiah ist es nicht nur aus musikalischen Gründen eine Herzensangelegenheit. Wie sie als Teenager in ihrem Jugendzimmer in Chattanooga, Tennessee saß und anfing, auf der Gitarre ihre Lieblingssongs nachzuspielen, konnte sie zu keinerlei Identifikationsfiguren aufschauen.

Kiah ist eine Identifikationsfigur

Der von ihr damals geschätzte Indierock war (und ist) schließlich ebenso von weißen Männern geprägt wie Folk und Country. Es machte die Sache nicht einfacher, dass ihre Familie nicht religiös war, es also keine Kirchengemeinde als soziales Umfeld gab und Kiah bald ihre Homosexualität entdeckte.

Jetzt kann sie selbst als Identifikationsfigur für andere dienen – und steht dabei nicht alleine da. Es tut sich was im Genre, die Zäune werden durchlässiger, die Horizonte weiter. Mit Brandi Carlile ist eine der profiliertesten amerikanischen Country-Sängerinnen lesbisch, der schwule Schwarze Lil Nas X kreuzt Country und HipHop, während die Schwarzen Jimmie Allen, Kane Brown und Blanco Brown im Mainstream-Country Erfolge feuern.

Und in Großbritannien verbindet Yola Country mit Soul. „All das löst gerade Wellen aus. Und ich bin froh, Teil dieser Wellen zu sein“, sagt Amythyst Kiah. Dass sie bald in der Grand Ole Opry in Nashville spielen wird, der Herzkammer des US-amerikanischen Country, ist da nur noch eine Randnotiz.