Ein junger Geiger auf den Spuren seiner Vorfahren
Ohne die „Black Lives Matter“-Bewegung wäre das Programm von Randall Goosbys Debütalbum beim Label Decca sicher konventioneller ausgefallen. Repertoireklassiker hätte er wohl ausgewählt, Musik aus Mitteleuropa, geschrieben von weißen Männern, die zwar oft nicht sehr alt geworden, aber dafür schon sehr lange tot sind.
Doch angesichts der aktuellen Entwicklungen entschied sich der Sohn eines Afroamerikaners und einer Koreanerin dafür, Werke jenseits des Mainstreams aufzunehmen.
Ein Album als Hommage an verfemte Komponisten
Goosbys erste CD „Roots“ wurde damit zur Hommage an jene Komponisten, „die in der Musikindustrie zu einer Zeit zurechtkommen mussten, als Rassismus, Vorurteile und Ausgrenzung noch an der Tagesordnung waren,“ wie der Künstler im CD-Beiheft schreibt. Afroamerikaner wie Florence Price und William Grant Still oder auch der Schwarze Brite Samuel Coleridge-Taylor.
Vertreten sind aber auch zwei Künstler, die zwar zur Mehrheitsgesellschaft gehörten, sich aber ehrlich für die Musikkultur ihrer ausgegrenzten Mitbürger interessiert haben: George Gershwin brachte 1935 mit „Porgy and Bess“ eine Oper, in der sämtliche Hauptrollen mit afroamerikanischen Sänger:innen besetzt sind.
Antonin Dvorak, der 1892 als Direktor des National Conservatory of Music nach New York kam, hatte mit demselben Respekt, den er für die Volksmusik seiner tschechischen Heimat empfand, auch die Melodien der indigenen Ureinwohner der Vereinigten Staaten sowie die der ehemaligen Sklaven studiert.
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„Heute genießen junge Artists of Color mehr Freiheiten und können sich dem klassischen Musikleben mit mehr Selbstbewusstsein widmen“, schreibt Goosby. Er selbst hat früh Förderung erfahren, konnte als Schüler am Sommercamp des Stargeigers Itzhak Perlman teilnehmen, der ihm half, ein Stipendium für die New Yorker Juilliard School zu bekommen.
Der erste Platz beim Exzellenzprogramm der „Young Concert Artists International Auditions“ 2018 öffnete ihm die Türen der Konzertsäle in den USA, die „Stradivari Society“ aus Chicago stellt ihm eine wertvolle Guarneri del Gesù-Geige aus dem Jahr 1735 zur Verfügung.
Und die spielt er natürlich auch auf seinem Debütalbum. Das Instrument klingt fantastisch, betörend in Schmelz und Süße, besonders in „Deep River“ von Samuel Coleridge-Taylor. Aber Randall Goosby kann viel mehr als nur schön zu spielen, er erforscht unterschiedlichste Stile – und klingt immer authentisch.
Er versenkt sich mit großer Ernsthaftigkeit
In die schroffen Solostücke des 2004 verstorbenen Komponisten Coleridge-Taylor Perkinson – dem seine Eltern als Vornamen tatsächlich den Nachnamen des verehrten Briten gegeben haben – versenkt er sich mit größter Ernsthaftigkeit. Johann Sebastian Bachs barocke Sonaten und Partiten sind hier unüberhörbar Vorbilder. „Blue/s Forms“ lautet der abstrakte Titel, doch Goosby weiß die Tonfolgen mit Kraft und Leben zu erfüllen, fesselt zuerst mit einem melancholischen Monolog, später mit einer eindringlichen Wutrede auf vier Saiten.
In den Ersteinspielungen der Fantasien von Florence Price (1887 – 1953) macht er den Einfluss französischer Musik hörbar, ein cooler Groove durchpulst die Auftragsarbeit „Shelter Island“ von Xavier Dubois Foley: So lässig improvisiert wirkt der Dialog seiner Geige mit dem vom Komponisten gespielten Kontrabass, als hätten sich die zwei in einer Bar, in der sowohl Bluegrass als auch R&B läuft, spontan zu einer Jamsession entschlossen.
Arrangements von Jascha Heifetz
Bei den Werken für Violine und Klavier steht Zhu Wang als einfühlsamer Begleiter an Randall Goosbys Seite. Wunderbar virtuos zelebrieren sie die Highlights aus „Porgy and Bess“, in der Salonmusik-Fassung, die der legendäre Jascha Heifetz einst für seine Konzertauftritte arrangiert hat. Eine echte Entdeckung ist Dvoraks G-Dur Sonatina Opus 100: Genau wie in der berühmten 9. Sinfonie versteht es der Tscheche hier, Musik „aus der Neuen Welt“ ganz organisch in seine romantische Tonsprache einzuweben.
Mit seinen 24 Jahren ist Randall Goosby eine komplett ausgeprägte Künstlerpersönlichkeit, ein Interpret, der die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer:innen erringt, weil er für jedes Werk eine eigene Erzählhaltung entwickelt, ein Narrativ, dem man neugierig folgt.
Er hat Haltung, scheut sich nicht davor, emotionale Grenzregionen auszureizen. Sein Ton ist immer selbstsicher, die Intonation makellos, ohne dabei je gelackt oder oberflächlich zu wirken. Nur die Angewohnheit des jungen Interpreten, an wichtigen Stellen laut schnaufend einzuatmen, dürfte den Tonmeister dieses außergewöhnlichen Debütalbums zur Verzweiflung gebracht haben.