Oberenders Abgang

Das Klima ändert sich. Vielleicht ist das auch einmal eine gute Nachricht. Lange Verborgenes dringt an die Oberfläche des Kulturbetriebs. Es war das Jahr des Personaltheaters in der Hauptstadt. Klaus Dörr, Intendant der Volksbühne, trat im März nach MeToo-Vorwürfen von Mitarbeiterinnen sehr schnell zurück. Allerdings wäre sein Vertrag in diesem Sommer ohnehin ausgelaufen.

Im April einigten sich die Tänzerin Chloé Lopes Gomes und das Staatsballett Berlin vor dem Bezirks-Bühnenschiedsgericht auf einen Vergleich; der Vertrag der Tänzerin wurde um ein Jahr verlängert und sie erhielt eine Abfindung. Lopes Gomes hatte Rassismusvorwürfe gegen eine Trainingsleiterin erhoben und gegen die Nichtverlängerung ihres Vertrags geklagt. Zur gleichen Zeit kamen Mobbing-Vorwürfe gegen Shermin Langhoff , die Intendantin des postmigrantischen Maxim Gorrki Theaters, an die Öffentlichkeit. Sie blieb im Amt. Die Dinge wurden intern geregelt.

Und bald darauf überraschte die Nachricht, dass Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, seinen erst im Herbst 2020 verlängerten Vertrag zum Jahresende 2021 auflöst. Die damalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters agierte umgehend, um das Nachfolge-Problem aus der Welt zu schaffen. Bereits im September, noch vor der Bundestagswahl, ernannte sie nach Beratungen mit einer Fachjury Matthias Pees zum neuen Festspiele-Chef.

Viele Berliner Häuser sind betroffen

Damit waren und sind vier bedeutende Berliner Kulturinstitutionen betroffen. Das gab es noch nie. Früher gerieten Theaterleiter über ihre Finanzgebaren ins Abseits, wenn überhaupt. Ein Wort wie Mobbing existierte noch nicht, wohl aber das Fehlverhalten, das es beschreibt. Krakeelende, betrunkene Regisseure waren noch in den Achtzigerjahren und darüber hinaus nichts besonders Auffälliges. Es kam auf die Qualität ihrer Kunst an. Und auf die politisch-moralische Einstellung. Diese musste nach außen stimmen, coram publico. Wie es hinter den Kulissen zuging, spielte keine Rolle.

So unterschiedlich die aktuellen Fälle gelagert sind, so deutlich wird auch: Sexistische Übergriffigkeit, rassistisches Verhalten, Drohgebärden, Gebrüll und anderes offenbar klassisches Führungsverhalten werden inzwischen sanktioniert. Nicht immer, aber immer häufiger.

Ein Kulturwechsel findet statt. Dass es dabei auch zu zweifelhaften, unklaren oder ungerechten Bewertungen kommen kann, lässt sich bei einem Umschwung dieser Größenordnung kaum vermeiden. Denn es geht nicht nur um eine veränderte Kultur der Arbeit zumal in künstlerischen Berufen. Es geht auch um einen Generationenwechsel, um Karrieren.

Über die Umstände des plötzlichen Abgangs von Thomas Oberender haben beide Seiten, der Bund und der Kulturmanager, Stillschweigen vereinbart. Viele fragten sich, intern und extern, was dahinter steckte. Es blieb erst einmal ruhig, und auf Gerüchte, die es in diesem Klima natürlich gab, sollte man sich angesichts der Ernsthaftigkeit des Themas und der Konsequenzen nicht verlassen.

Was steckt hinter dem Sillschweigen?

Es hieß, der scheidende Festspielchef wolle sich neuen Aufgaben widmen. Eine Abfindung bekommt er nicht. Das klang einigermaßen glaubwürdig, denn bereits seit einigen Jahren sieht sich Oberender mehr als Kurator denn als Verwalter – beim gescheiterten „Dau“-Projekt, bei der Reihe „Immersion“, die nun ausläuft, und bei der Bespielung jüngst des ICC, „The Sun Machine Is Coming Down“. Er wollte künstlerisch wirken, die Berliner Festspiele mit ihren vielen Festivals wurden ihm zu eng. Er hatte eine Mission.

Ende November wurde Thomas Oberender in das Präsidium des Goethe-Instituts berufen, ein honoriger Posten. Und nun doch: Nach Recherchen des RBB und des ARD-Politikmagazins „Kontraste“ musste der Festspiele-Chef wegen massiven Fehlverhaltens gehen. Mitarbeiterinnen sprechen von Mobbing, psychischem Druck, litten unter Burn-Out, Krankheit sei nicht akzeptiert worden. Die Personalfluktuation bei den Festspielen war in der Oberender-Zeit, also ab 2012, außergewöhnlich hoch.

Männer dominieren die Branche

In diesen Jahren kamen und gingen zwölf Mitarbeitende, die mit Oberender zu tun hatten. Als „machiavellistisch“ bezeichnet Matthias Osterwold, langjähriger Chef der bei den Festspielen angesiedelten „März Musik“-Reihe, den Führungsstil von Oberender. Zuletzt sollen sich der Betriebsrat und die Geschäftsführung der KBB, der Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin, eingeschaltet haben. Daraufhin sah die Kulturstaatsministerin Handlungsbedarf.

Das Schweigen setzt sich fort. Weder Grütters noch Oberender äußerten sich zu den jüngsten Berichten. Das Geheimistuerische schadet der Politik, die möglichweise erst gehandelt hat, als es nicht mehr anders ging. Und es schadet den Kultureinrichtungen. Das sind schmerzhafte Prozesse. Vor allem die großen Bühnen geraten unter Generalverdacht. Dort herrsche immer noch ein tyrannisches System – zu viel Machtfülle in den männlich dominierten Intendanzen. Das heißt nicht, dass nicht auch Frauen, die sich in diesem System durchkämpfen, herrische Verhaltensweisen entwickeln.

Zu viel Macht für Intendanten

Im Jahr 2019 wurde die erste Studie über Machtstrukturen an deutschen Theatern veröffentlicht. Der Autor Thomas Schmidt stellte fest, dass über die Hälfte der 2000 Befragten missbräuchliches und übergriffiges Verhalten kannten, überwiegend durch Intendanten. Wenn das so zutrifft, handelt es sich um einen Flächenbrand.

Bei der Vertragsverlängerung im Oktober 2020 sagte Kulturstaatsministerin Monika Grütters: „Thomas Oberender sind Kulturereignisse zu verdanken, die aufrütteln und gewohnte Perspektiven sprengen. Manch wichtige gesellschaftliche Diskussion hat er auf diese Weise angestoßen.“ Von Ober enders Problemen wusste sie damals wohl nichts.

Doch könnte sie auf andere Weise recht behalten. Intendanten, die ihre Machtmöglichkeiten missbrauchen, stoßen in der Tat wichtige gesellschaftliche Diskussionen an. Ja, es rüttelt auf, sprengt die gewohnten Perspektiven. Richtige Worte am falschen Platz.

Ist der Intendanzposten in der traditionellen Form obsolet? Oder lässt sich ein code of conduct finden? Braucht es eine Quote oder auch eine Begrenzung der Amtszeiten, wie die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag schreibt? Und was macht das alles mit der Kunst?

Die Verantwortung der Chefs

Es ist keineswegs so, dass der Kulturberieb eine Sonderrolle einnimmt. Die Julian-Reichelt-Schlagzeilen über die „Bild-Zeitung“ haben es gezeigt. Über MeToo und Missbrauch in den großen Industrieunternehmen ist nicht viel bekannt. Das heißt nicht, dass dort alles in Ordnung wäre.

Es stimmt aber auch: In kreativen und künstlerischen Berufen, aber auch im Sport, müssen Menschen sich öffnen. Physische und psychische Grenzen werden an- und ausgetestet. Das führt leicht zu Missbrauch, zur Verwechslung von Privatbereich und Professionellem. Hinzu kommen in der Kultur prekäre Beschäftigungsverhältnisse, oft auch nur auf Zeit.

Darüber steht der Intendant, meist Gutverdiener. Er trägt viel mehr als die künstlerische Verantwortung.