MeToo in der Musik: Bitte Berühren! Aber im geschützten Raum
Er ist nicht irgendwer in der Musikwelt. Erst kürzlich stand der Dirigent François-Xavier Roth am Pult der Berliner Philharmoniker, er ist ein gern gesehener Gast bei den großen Orchestern, hat einen guten Namen auch wegen seiner Nahbarkeit. Jetzt ruht sein Amt als Chef des Gürzenich Orchesters und Generalmusikdirektor in Köln.
Der Grund: Dem französischen Recherche-Magazin „Le Canard enchainé“ zufolge soll er in früheren Jahren anzügliche SMS an Musikerinnen und Musiker verschickt haben, Sexnachrichten, auch Penis-Bilder. Auch ein Brief eines Kölner Orchestermitglieds wirft ihm sexuelle Übergriffigkeiten vor. Roth streitet die Anschuldigungen nicht kategorisch ab, eine Anwaltskanzlei ist mit der Prüfung beauftragt.
MeToo und kein Ende. Ja, es hört nicht auf seit dem Skandal um den US-Produzenten Harvey Weinstein 2017. Beim Filmfest Cannes stand das Thema jetzt erneut auf der Agenda, auch dank des Kurzfilms „Moi aussi“ der Schauspielerin Judith Godrèche. Die Ahndung von Verbrechen braucht Zeit, erst recht ein nachhaltiger Mentalitäts- und Strukturwandel: die Sensibilisierung für Fehlverhalten diesseits des Justiziablen, das Empowerment möglicher Opfer, die Verpflichtung zur Prävention.
Gute Klassik, gutes Tanztheater ist ohne Nähe nicht möglich
Machtmissbrauch in der Welt der Klassik und des Balletts, auch das hat sich nicht erledigt. Von Mitarbeitenden der Bayreuther Festspiele wurden 2022 Sexismus-Vorwürfe erhoben, die Münchner Musikhochschule mitsamt Ballett-Akademie hat im April einen Sieben-Punkte-Plan vorgestellt, nach einer Studie und der rechtskräftigen Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Siegfried Mauser. Unter anderem soll es bessere anonyme Beschwerdeverfahren geben.
Ob im Orchester oder in der Hochschule: Voraussetzung für jede Berührung, jede Grenzüberschreitung muss das Einverständnis der Tänzer und Musikerinnen sein.
Christiane Peitz, Redakteurin im Kulturressort des Tagesspiegels
Immer wieder steht auch der Einzelunterricht in der Kritik. Er ist besonders anfällig für Übergriffe und ein Klima der Angst, für verbale und körperliche Demütigung. Das Problem: Gute Klassik, gutes Tanztheater ist ohne Nähe, körperlich wie emotional, nicht möglich. Nicht der Einzelunterricht gehört abgeschafft, nicht die Möglichkeit des „Anfassens“, etwa der Korrektur von Körperhaltung, Atem- und Fingertechnik, aber es müssen klare Regeln gelten.
Ob im Orchester oder in der Hochschule: Voraussetzung für jede Berührung, jede Grenzüberschreitung muss das Einverständnis der Tänzer und Musikerinnen sein. Denn von der Musik selbst wollen wir ja berührt werden. Raus aus der Komfortzone: Wer musiziert, verlässt den Schutzraum der Vernunft. Gerade deshalb haben die Ausübenden ein Recht darauf, sich sicher zu fühlen.