Rückeroberung des weiblichen Körpers im Poledance: „Ich darf mich sexy, obszön und sinnlich an der Stange bewegen – ganz für mich allein“

Mit beiden Händen umfasst Jule Teufel die Stange. Die eine Hand oben, die andere Hand weiter unten. Dann holt sie mit einem Bein Schwung und zieht ihren Körper nach oben, sodass sie eine Art Handstand an der Stange macht. Handspring nennt sich die Pose. Sie ist im Poledance besonders beliebt, erfordert aber auch viel Training. Als Jule Teufel sie nach mehreren Jahren erlernt hatte, war sie besonders stolz auf sich. „Es gibt Figuren, von denen ich dachte, dass sie unmöglich sind und dann funktionieren sie doch“, sagt sie.

Noch vor sechs Jahren hätte die 38-Jährige sich kaum vorstellen können, akrobatische Übungen an einer Stange auszuführen. „Ich hatte keinerlei Vorerfahrung im Tanzen oder Turnen“, sagt sie. Aber als sie dann im Zirkus eine Tänzerin sah, die an einer Stange turnte, faszinierte sie das. Bereits als Kind hatte sie davon geträumt, Zirkusartistin zu werden.

Also besuchte sie ein Poledance-Studio in Berlin und war „sofort süchtig“, wie selbst erzählt. „Ich bin in den 1990er-Jahren aufgewachsen. Damals war Bodyshaming ein großes Thema. Der Druck auf Frauen, bestimmten Standards zu entsprechen, war enorm. Dieser Druck hat sich für mich erst im Poledance aufgelöst.“

Poledance fand vor allem in Stripclubs statt

Um sich die Trainingseinheiten leisten zu können, putzte sie die Räume des Studios und half am Empfangstresen aus. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich die ersten Bewegungsabläufe merken konnte und die Kraft entwickelte, um sich länger an der Stange zu halten. „Ich habe erst mit 33 Jahren angefangen, das ist relativ spät.“

Anfangs war es für sie ungewohnt, dünn bekleidet Sport zu treiben und sich dabei selbst im Spiegel zu beobachten. „Aber über die Jahre habe ich gemerkt: Mein Körper ist gut so wie er ist. Die Schönheit kommt durch die Bewegung und ich habe Einfluss darauf.“

Das Angebot an Kursen ist mittlerweile vielfältig.

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Ursprünglich fand Poledance vor allem in Stripclubs statt.  Die Sportart wurde aber auch durch „Chinese Pole“ und dem indischen Mallakhamb beeinflusst. Zweiteres wird vor allem von Männern an einem breiten Holzpfahl ausgeübt.

Wir müssen Poledance nicht mehr nur für ein männliches Publikum machen.

Jule Teufel, Poledance-Lehrerin

„Ohne die Stripclubs gäbe es die Szene nicht“, sagt Teufel. „Die Außenwahrnehmung hat sich aber sehr verändert. Poledance wird zunehmend auch als Sportart anerkannt.“ So finden sich Elemente aus rhythmischer Sportgymnastik, Akrobatik und Tanzstilen wie Ballett, Contemporary oder Hip-Hop. Die Tänzer und Tänzerinnen sind zumeist barfuß oder tragen High Heels, selten auch Sneakers. Dass sie dünn bekleidet sind, liegt vor allem daran, dass sie durch den direkten Hautkontakt besseren Halt an der Stange haben und nicht so leicht abrutschen.

„Natürlich werden Poledancerinnen immer noch sexualisiert“, sagt Teufel. „Das liegt auch daran, dass wir in einer hypersexualisierten Gesellschaft leben.“ Bis heute gäbe es Menschen, die beschämt reagieren, sobald sie ihre Sportart erwähnt. „Für mich geht es beim Poledance auch darum, die eigene Sexualität wertzuschätzen. Ich darf mich sexy, obszön und sinnlich an der Stange bewegen – ganz für mich allein.“

Teufel sieht darin eine Art Rückeroberung des weiblichen Körpers in ihrer Sportart. „Wir müssen Poledance nicht mehr nur für ein männliches Publikum machen oder jemandem etwas beweisen.“

Dopingtests bei internationalen Turnieren

Längst hat die Sportart auch international Sichtbarkeit erlangt. Auf Konzerten und in der Halbzeitshow beim Super Bowl traten Tänzer und Tänzerinnen auf. Überdies gibt es internationale Wettbewerbe, bei denen die Teilnehmenden in verschiedenen Kategorien gegeneinander antreten. Dabei kommt es auf Kriterien wie Ausdruck, Musikalität, tänzerische Elemente und Choreografie an.

Mittlerweile werden dort sogar Doping-Kontrollen durchgeführt. „Das zeigt, dass Poledancing auch als Sport ernst genommen wird“, meint Teufel. In Berlin wird Poledance zunehmend in bestehende Fitnessangebote aufgenommen, neben anderen Sportarten wie Yoga oder Pilates. „In den 1990er- und 2000er-Jahren war es schwierig, einen Trainingsort zu finden“, erinnert sich Teufel. „Heute ist das anders.“

Jobst Graeve wollte erst nur einen Radschlag lernen, dann landete er beim Poledance.

© Olga Kuzmenko

Sie selbst hat indes eine Ausbildung zur Trainerin gemacht und gibt Kurse. In ihrer Neuköllner Galerie „ARTZZZ Studio“ veranstaltet sie regelmäßig Abende, bei denen internationale Tänzer und Tänzerinnen auftreten, zuletzt aus Südafrika und Italien.

In ihren Anfängerkursen stehen erst einmal Kraft- und Flexibilitätsübungen auf dem Programm. Gemeinsam werden die Muskelgruppen gestärkt, die wichtig sind, um sich an der Stange halten zu können. „Danach tanzen wir Choreografien, die erste Elemente beinhalten, wie Pirouetten oder den Fireman Spin“, sagt Teufel. Beim „Fireman Spin“ dreht man sich um die Stange und lässt man sich − ähnlich wie bei der Feuerwehr – langsam hinabgleiten.

Die meisten Kursteilnehmenden sind weiblich und zwischen 20 und 30 Jahren alt. „Jüngere Leute probieren eher etwas Neues aus“, sagt Teufel. „Das hat aber auch mit Hemmungen und Tabus zu tun: Viele denken, dass Poledancing nichts für Männer ist.“

Jobst Graeve begann mit 59 Jahren Poledance

Jemand, der mit diesen Stereotypen bricht, ist Jobst Graeve. Der 69-Jährige fing vor zehn Jahren mit Poledance an, Grund dafür war ein Neujahrsvorsatz. „Ich habe mir damals vorgenommen, einen Radschlag zu lernen. Ich dachte mir: Jetzt mit 60 hast du nichts zu verlieren und keinen Leistungsdruck.“ Also ging Graeve zu einem Akrobatikkurs und übte regelmäßig in einem Park, nahe seiner Wohnung in Berlin – bis er nach anderthalb Jahren endlich ein Rad schlagen konnte. „Danach brauchte ich eine neue akrobatische Beschäftigung und habe mit Poledance angefangen“, sagt Graeve.

Ich musste meine Komfortzone verlassen.

Jobst Graeve, Tänzer

In einem Studio am Moritzplatz suchte er sich einen Kurs, bei dem nicht nur Frauen, sondern auch Männer zugelassen waren. „Ich habe schnell gemerkt, dass ich unfit bin und keine Fortschritte erzielt“, sagt Graeve. Das änderte sich erst, als er anfing, mehrmals die Woche zu trainieren. Mittlerweile lebt er in Dublin und übt bis zu fünfmal die Woche.

Bis er ganze Choreografien einstudieren und aufführen konnte, war es ein langer Weg. „Ich musste meine Komfortzone verlassen“, erinnert sich Graeve. Anfangs erzählte er seinen Freunden und Bekannten nichts von seinem neuen Hobby. „Nach und nach habe ich sie dann aber zu meinen Aufführungen eingeladen.“

Viele Bewegungen, die Graeve ausführt, erfordern Kraft und Flexibilität.

© Olga Kuzmenko

Besonders gut gefällt ihm, dass man für Poledance nicht viel braucht – nur den eigenen Körper und eine Stange. „Je mehr Kontaktpunkte es zwischen Haut und Stange gibt, desto sicherer ist es.“ Zudem sei der Sport sehr vielfältig. „Es gibt Tänzer, die Heels tragen und in Nachtclubs tanzen. Und es gibt Tänzer, die sich dafür einsetzen, dass Poledance olympisch wird.“

Eines hätten aber fast alle gemeinsam: dass der Sport sie verändert. „Viele Tänzerinnen und Tänzer sind schüchtern, wenn sie mit Poledance anfangen. Aber sie trauen sich immer mehr zu, werden selbstbewusster und stärker.“ So auch Graeve, der mittlerweile sogar den „Phenix“ kann – eine Pose, bei der man sich mit einem Arm an der Stange festhält und wie ein Vogel kreisend in die Luft aufsteigt. Das hätte er sich vor ein paar Jahren wohl auch kaum zugetraut.