Kai Havertz ist der Buster Keaton der deutschen Nationalelf
Zu den erstaunlichen, im Lichte aktueller Ereignisse sogar verblüffenden Dingen, die man über Kai Havertz wissen kann, gehört, dass er in seiner noch nicht allzu lang zurückliegenden Schulzeit der Klassenclown war. Diese Information stammt nicht aus obskuren Quellen, Havertz selbst hat das vor zwei Jahren den Kinderreportern von Bayer04 TV erzählt.
Er tat das übrigens mit ähnlich unbewegten Gesichtsausdruck, wie man ihn zuletzt im Trikot der deutschen Nationalmannschaft erleben konnte. Zweieinhalb Tore hat er in der Vorrunde erzielt, gegen Ungarn erzielte er am Mittwoch das 1:1. Auf seinem Gesicht war nach den Treffern aber kaum eine Reaktion zu erkennen. Was die Frage aufwirft, ob das Humorvorbild von Kai Havertz vielleicht der große Buster Keaton ist, der König des „Dead Pan“.
Womit wir bei einem Problem wären, denn Havertz befindet sich damit am anderen Ende der Robin-Gosens-Skala. Gosens lässt während des Spiels und danach vor den Kameras und Mikrofonen alle an seinen Gefühlen teilhaben, war gerade nach seinem überragenden Spiel gegen Portugal begeistert, überwältigt und einfach selig.
Noch herrlicher wurde das durch seine Geschichte, die ja die Fußballvariante des Aschenputtel-Märchens ist. Doch wie gesagt, bei Kai Havertz ist das alles anders.
Kunst soll von Anstrengung kommen
Thomas Broich, gerade als Experte für die ARD bei der Europameisterschaft unterwegs, sagt über Havertz: „Bei ihm fühlst du den Schweiß nicht.“ Was ein weiterer Gegensatz zu Gosens ist, dessen Schweiß selbst zuhause auf dem Sofa noch zu spüren ist. Für Havertz ist es nicht einfach, dass die Dinge bei ihm so unaufgeregt anstrengungslos wirken, denn damit landet man in Deutschland ruckzuck in der Mesut-Özil-Falle.
Der ehemalige Nationalspieler konnte noch so genial durch die Räume schleichen und dabei tödliche Pässe in Serie verteilen, dem Publikum fehlte einfach das Schweiß-Signal. Und die entschlossene Körpersprache, der Endgegner für alle Fußballkünstler hierzulande.
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Das deutsche Fußballpublikum will in seiner großen Mehrheit sehen, dass Kunst nicht von Können, sondern von Anstrengung kommt. Broich, als Spieler „Mozart“ genannt, feiert Havertz hingegen dafür, dass er auf dem Rasen fast immer genau den Punkt findet, „an dem er maximal weit von allen Gegenspielern entfernt ist“.
Das ist einer der Gründe, weshalb Havertz manchmal mit dem selbsternannten „Raumdeuter“ Thomas Müller verglichen wird. Doch anders als der ist Havertz auch noch ein großer Dribbler und zudem unfassbar schnell. In seiner letzten Saison in der Bundesliga wurden mehr als 35 km/h gemessen, kein Mittelfeldspieler war schneller.
Außerdem beschreibt Broich ihn als „Drehtür“, was ein schönes Bild ist, weil Havertz sich mit großer Leichtigkeit nach rechts und links mit dem Ball aufdreht, um ihn dann weiter zu verteilen.
Vergleich mit Zinédine Zidane
Dass Havertz so schnell ist, fällt kaum auf, auch seine anderen Fähigkeiten sind eher subtile Künste, anders als beim Ausrufezeichen-Fußball von Gosens. Immerhin hat Havertz sein sehr besonderer Talente-Werkzeugkasten den Vergleich von einem Großen des Fußballs mit einem anderen Großen des Fußballs eingetragen.
„Ich vergleiche ihn mit Zinédine Zidane, von den Fähigkeiten her, der Technik, der Übersicht und dem Vorwegnehmen einer Situation“, sagte Lothar Matthäus kürzlich. Viel weiter oben kann man nicht ins Regal greifen bei einem Spieler, der vor nicht einmal zwei Wochen 22 Jahre alt geworden ist, aber schon über 200 Pflichtspiele im Männerfußball auf dem Buckel hat.
Darunter ein Finale der Champions League, in dem er das einzige Tor schoss. Auch körpersprachlich passt der Vergleich bestens, weil Zidane seine Kunst zumeist auch eher mit ausdrucksloser Miene zelebrierte, was den Ausbruch des Kopfstoßes im WM-Finale 2006 noch rätselhafter machte.
“Kleine Mauer um sich aufgebaut”
Dass es im verschlossenen Havertz womöglich ähnlich dunkel brodelt, ist aber eine Überinterpretation.: „Er ist kein scheues Reh, aber er hat in den letzten Jahren schon eine kleine Mauer um sich aufgebaut“, heißt es aus seinem Umfeld. Man merkt eine gewisse Unbehaglichkeit daran, dass er sich vor der Kamera gerne mal kurz am Kopf kratzt oder an die Nase fasst.
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Dass er mal aus sich herausgeht, wie nach dem Gewinn der Champions League, als er auf die nach der Belastung durch die Ablösesumme befragt damit antworte, dass er darauf gerade nicht mal „einen Fuck“ geben würde.
Ansonsten haben die letzten beiden Jahre den Selbstschutz verstärkt. „Es ist immer so, dass wenn du ein nicht so gutes Spiel hast, alle anfangen zu reden“, hat Havertz nach dem Portugal-Spiel gesagt. Die Erwartungen an ihn sind nämlich längst gewaltig. In seiner letzten Saison in Leverkusen wurde er von den Fans des Klubs, bei dem er seit dem 10. Lebensjahr spielte, teilweise rüde attackiert.
Seine Leistungen waren unübersehbar schwächer als in den drei Spielzeiten zuvor, und im Nachhinein gestand Havertz auch ein, dass die Überlegungen und Verhandlungen zu seinem Wechsel nach London ihm „im Kopf zugesetzt“ hatten. Das erste Jahr in der Premier League mit dem 100-Millionen-Euro-Preisschild einer gewaltigen Ablösesumme um den Hals war ebenfalls teilweise „keine schöne Zeit“.
Der Süddeutschen Zeitung erzählte er vor ein paar Tagen: „Timo Werner und ich ziehen uns manchmal gegenseitig mit den Schlagzeilen auf, aber wenn man später allein zu Hause sitzt, ist‘s nicht mehr ganz so lustig.“
Gosens und Havertz nicht gegeneinander ausspielen
In dem Interview gestand er auch ein: „Vor Spielen bin ich mittlerweile ziemlich aufgeregt, stärker als früher.“ Zwar würde das Gefühl verfliegen, wenn es auf dem Platz losgeht, aber verändert hat sich was. Auch diesbezüglich ist Havertz am anderen Ende der Robin-Gosens-Skala, denn für den Mann von Atalanta Bergamo ist jedes Spiel im Nationaldress eines mehr als er sich je erträumt hätte.
Für Havertz ist hingegen jedes Spiel, ob im Nationaldress oder bei Chelsea, eines, in dem man mindestens große Dinge von ihm erwartet. Dennoch darf man Gosens und Havertz nicht gegeneinander ausspielen. Gosens tut der Nationalmannschaft mit seiner frischen Begeisterung gut, man merkt daran, wie sehr die zuletzt gefehlt hatte. Aber mit dem subtilen, vermeintlich schweißlosen Genie des Kai Havertz ist es eben nicht anders.
Dass man bei Havertz die Anstrengung nicht sieht, heißt nicht, dass es sie nicht gibt. César Azpilicueta, sagte nach dem Finale der Champions League: „Der Bursche hat eine Top-Mentalität. Er ist wie bekloppt gerannt, das ist Teamwork.“ Vermutlich dachte sein Mannschaftskapitän bei Chelsea, dass das ausdrücklich gesagt werden musste. Denn an der Körpersprache allein war das nicht zu erkennen.