Ausstellung „Acts of Resistance and Repair“: Die Geschichtenerzählerin
Es sind eindrucksvolle Bilder, die derzeit in der Schirn Kunsthalle Frankfurt/Main zu sehen sind. Überwiegend großformatige Fotografien, mit denen Menschen ins Zentrum rücken, die allzu oft nur am Rande unserer Wahrnehmung existieren. Seit mehr als zwei Jahrzehnten widmet sich die indische Fotografin Gauri Gill den eher unbekannten Perspektiven und vor allem Menschen ihres Heimatlandes. „Acts of Resistance and Repair“ ist dennoch erst die zweite Ausstellung der Künstlerin in Deutschland.
„Entdeckt“ wurde sie von Schirn-Kuratorin Esther Schlicht während der documenta 14. Die heute 52-jährige Künstlerin kam in Chandigarh, einer nordindischen Millionenmetropole, zur Welt. Sie studierte Angewandte Kunst und Fotografie in Neu-Delhi, New York sowie an der Stanford University in Kalifornien.
Ihre Arbeiten waren unter anderem bei den Biennalen in Venedig und Moskau zu sehen, ebenso in Einzelausstellungen im Columbus Museum of Art, Ohio, dem MoMA PS1, New York, sowie dem Museum Tinguely in Basel. In Deutschland war die Fotografin bisher vermutlich eher einem kleineren Publikum ein Begriff. Die Schau in der Schirn Kunsthalle könnte dies nun ändern.
Heimat und Exil, Tradition und Fortschritt – Facetten einer großen Erzählung
Leben und Sterben liegen nah beieinander in dieser Schau. Heimat und Exil, Tradition und Fortschritt, Entbehrung und Ekstase – all dies sind Facetten einer großen Erzählung, in der das raue Leben in der Wüste Rajasthans ebenso Platz hat wie die indische Diaspora in den USA.
Gills Fotografien sind nicht bloß Abbildungen, sie formen eine Sprache, werden zum Werkzeug der Ungehörten. Es sind Menschen wie der Warli-Künstler Rajesh Vangad, denen Gill mit ihren Werken eine Stimme verleiht. Die Warli sind eine nur rund 300.000 Personen zählende Minderheit im Milliarden-Land Indien. Statt einer klassischen Schrift, nutzen sie eine Bildsprache, bestehend aus Zeichen und geometrischen Formen.
Der Künstler Vangad hat diese traditionelle Kunst seines Volkes weiterentwickelt, ihr neue Farben und Formen gegeben und eine ganz neue, eigenständige Kunst geschaffen. Gauri Gill fotografierte den Künstler in seinem Heimatdorf und ergänzte die Bilder in einer weiteren Ebene durch Vangads Malereien. Wie durch Traumsequenzen scheint der Künstler in Gills Arbeiten zu wandeln. Entrückt, in weiter Ferne und doch ganz nah, inmitten der Herausforderungen einer post-kolonialen, industriellen Gesellschaft.
Besonders bemerkenswert dabei: Die Bildsprache der Warli war ursprünglich nur den Frauen der Gemeinschaft bekannt. Erst ab den 1960er-Jahren lernten auch die Männer die Zeichen und Symbole zu verstehen und weiterzugeben. Insgesamt sind es vor allem die Frauen, die in Gills Arbeiten in den Mittelpunkt rücken.
Also jene Menschen, deren Wert in der indischen Gesellschaft schon allein durch ihre Geschlechtszugehörigkeit gegen Null läuft. Gauri Gill zeigt nicht irgendwelche Frauen, sondern primär die in den ländlichen Regionen. Frauen, die von Armut bedroht sind, die in unwirtschaftlichen Gegenden und unter harten Bedingungen für das Leben und Überleben ihrer Familien kämpfen.
Doch es sind keine mitleidheischenden Fotografien, keine Abbilder von Leid und Schmerz. Ganz im Gegenteil. Die Besucher:innen erleben in den meist schwarzweißen Fotografien aufrichtige Empathie, die Freundschaft zwischen der Fotografin und ihren Modellen ist regelrecht greifbar.
Gauri Gill ist keine Voyeurin, die sich an der Exotik der Armut erfreut. Sie ist eine Frau, die von anderen Frauen eingeladen wurde, deren Geschichten zu erzählen. Sie ist ein Mensch, der die Menschen hinter all den gesellschaftlichen Konventionen, Dogmen und Nöten ihres Heimatlandes zeigt. In ihren Fotografien werden die Frauen zu Hauptdarstellerinnen in einer Gesellschaft, die ihnen allzu oft nicht mal eine Nebenrolle erlaubt.
Da ist beispielsweise das Mädchen Jannat, das die Besucher:innen durch einen großen Teil der Ausstellung begleitet. 52 kleinformatige Silbergelatineabzüge umfasst der Zyklus, der das Aufwachsen der jungen muslimischen Frau zwischen 1999 und 2007 zeigt.
Vom Familienvater verlassen, müssen Jannat, ihre jüngere Schwester und die Mutter in patriarchalen Machtstrukturen ihr Leben bestreiten. Es sind alltägliche, dadurch aber umso intimere Situationen, die Gill einfängt. Bilder, wie sie nicht bloß von einer unbeteiligten Zuschauerin, sondern von einer Freundin, ja, von einem Familienmitglied angefertigt werden können.
Von dieser Verbundenheit zeugen auch die Briefe, die begleitend zu den Fotografien ausgestellt werden. Briefe, in denen Jannat und ihre Familie Gauri Gill Liebe und Segenswünsche schicken, als diese schon längst wieder für andere Projekte durch die Welt reiste. Briefe, die schreibkundigen Vertrauten diktiert wurden – denn Frauen dürfen nur selten selbst den Umgang mit der geschriebenen Sprache lernen. Jannat starb im Alter von nur 23 Jahren. Gauri Gill setzte ihr ein Denkmal.
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