Deutsche Oper Berlin: Aktueller kann Musiktheater nicht sein
Ein dunkler Raum mit Videoprojektionen rechts und links. Frontal die Bühne. Persische Klänge. Da die seitlich angeordneten Sitzreihen gesperrt sind, sammeln sich die Zuschauer:innen um einen im Raum exponierten Flügel. Golnar Shahyar intoniert, lässig ans Instrument gelehnt, eine klagend anrührende Weise. Jetzt lösen sich weitere Figuren aus der Masse, fast unmerklich entspinnt sich eine Handlung.
Zwei Kameras verfolgen die Darsteller, die in Nahaufnahmen projiziert erscheinen, während ein von wilder Musik befeuerter Tanz entsteht. Da wird die Party plötzlich unterbrochen: Polizei in Zivil treibt das Publikum mit Taschenlampen auf die Ränge.
Die Regisseurin nennt das Stück ein „Sachmärchen“
Im postrevolutionären Teheran sind solche Zwischenfälle keine Seltenheit. Nun entladen sich die aufgestauten, gesellschaftlichen Spannungen seit September 2022 in blutigen Protesten. Die Demonstrant*innen treten für Frauenrechte, Freizügigkeit, Selbstbestimmung und Demokratie ein. Das Musiktheater „Negar“ von Marie-Éve Signeyrole und Keyvan Chemirani verarbeitet an der Deutschen Oper Berlin jetzt die Lebensrealität junger Menschen in der iranischen Hauptstadt im Umfeld der Hauptfigur Negar (Shahyar).
Signeyrole beschäftigt vornehmlich die „Frage des Sehens und nicht Sehens“ und versteht ihr Stück als Sachmärchen. Dabei werden diverse Perspektiven miteinander verschmolzen und in einen träumerischen Erzählraum transformiert. Wie ist die westliche Sicht auf eine andere Kultur? Wie blickt ein Mensch in der Immigration auf seine Heimat? Wie empfindet jemand, der alles riskiert um eine theokratisch überformte Lebensrealität aufzubrechen?
Auch die Musik von Chemirani bewegt sich im Spannungsfeld von Distanz und Vertrautheit, indem traditionelle persische Elemente mit Barockmusik, abendländischen Musiksprachen oder Popularmusik im Raum von Komposition und Improvisation interpoliert werden.
„Negar“ leistet einen wichtigen Beitrag im Bestreben, das Format Oper zeitgemäß zu rekreieren. Signeyrole versucht eurozentrische Perspektiven zu überwinden und vielfältige szenisch-technische Mittel wie Projektion, Live-Video oder die bewegliche Nutzung des Raumes künstlerisch zu integrieren – und das erfolgreich.
Die kurzweiligen zwei Stunden verlieren sich nicht im Effektrausch, Chemiranis Fusion multipolarer, musikalischer Welten geht auf. Negar schließt mit den Worten: „Ich habe keine Liebe mehr, ich habe keinen Bruder mehr.“ Ein Ende in unaufgelöster Spannung. Das ist folgerichtig, schließlich bleibt auch die Frage nach der Zukunft der Menschen im Iran unaufgelöst, unentschieden.
Weitere Aufführungen am 31. Oktober sowie am 1., 2., 3. , 5. und 6. November in der Tischlerei der Deutschen Oper.
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