Riesenschnuller statt Rimowa-Koffer

Mehr von allem und trotzdem kaum Verantwortung. Das klingt nach Dating-App, lässt sich aber auf beliebige Lebensbereiche der Großstädterin anwenden. Wer kosmopolitisch lebt, der leiht! Jedenfalls war das vor Corona so. Eigentum wurde obsolet.

Stattdessen bildeten Abos in Crossfitcentern, Streamingdienste, Leihfahrräder und Sharingautos ein Konglomerat aus Unverbindlichkeiten. Das förderte einen Lebensstil, der sich jederzeit abstreifen und an einem anderen Ort fortsetzen ließe. Alles austauschbar, ohne große Rückstände.

Abwaschbar wie die Oberflächen, die Künstlerin Anna Uddenberg bislang entwarf: Lederimitate, Polyester und Rucksackriemen, dazu dekoratives Fake-Fell. Uddenberg nutzte die Materialien für futuristische Skulpturen, die an Trolleys und Sitzmöbel erinnern. Bekannt wurde sie mit absurd überdehnten Frauenkörpern.

Deren große Gesäße strebten gen Himmel, die Oberkörper lagen auf Tischplatten oder Polstermöbeln wie abgeworfen. Bereit und erschöpft, fliehend und provozierend: die Puppe als Inbegriff der sexualisierten Weiblichkeit.

Doch seit Corona ist diese Erzählung veraltet. Es gibt keine Vernissagen mehr, die Extravaganz verstaubt im Schrank. Kosmopolitismus sieht jetzt so aus: Wer muss, der liefert mit Rucksack und prekärem Arbeitsvertrag Essen aus. Wer kann, der rettet sich aufs Land oder in die Stadtwohnung in ruhiger Lage.

Cottagecore beschreibt diese plötzliche Rückwärtsgewandtheit. Uddenbergs Frauenkörper mit Reisegepäck passen da nicht mehr. Sie wirken wie das Wohlstandsversprechen aus einer anderen Zeit. Zu aufdringlich, materialistisch und überkandidelt.

Uddenberg hat interveniert. In ihrer Ausstellung „Big Baby“ in der Galerie Kraupa-Tuskany Zeidler gibt es kein Kunstfell mehr. Stattdessen: Holz. Zehn Schnuller werden präsentiert. Oder sind es Lenkräder? Die Skulpturen sehen weich aus. Aufwendig gearbeitet, fein gefeilt. Vorne sind Motive eingearbeitet: ein Hintern, diesmal ein männlicher. Er steckt in einer Rüschenunterhose. Der Penis zeichnet sich an der Naht ab.

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Anna Uddenberg, 1982 in Stockholm geboren, gibt wenig preis: kaum Selfies oder Interviews. Aus ihrem Lebenslauf lässt sich schließen, dass sie erwachsen wurde, als Arschgeweihe und hochgezogene Strings hip waren. Sie studierte an der Städelschule in Frankfurt und am Royal Institute of Art in Stockholm.

Kurze Zeit später erlebte der Hintern auf Instagram seine Renaissance. Kurzes Oberteil, hoher Jeansbund, seitlich eingedrehter Körper, angewinkeltes Bein. Die Pose erinnert an ein Dressurpferd, von unten fotografiert. Einprägsame Fotos von Frauen, die in Dauerschleife durch etliche Feeds liefen.

[Galerie Kraupa-Tuskany Zeidler, Kohlfurter Str. 41/43, bis 20. Juni, k-t-z.com]

Die Anatomie von Uddenbergs Puppen erinnert an diese Instagram-Ästhetik. Der Hintern als Höhepunkt, irgendwo zwischen Selbstermächtigung und Unterwerfung. Der Männerhintern scheint dagegen niedlich. Das Schnuller-Lenkrad hat etwas Volkstümliches, ist lächerlich und trotzdem sehr ernst. Uddenberg präsentiert ein neues Motiv: die infantile Männlichkeit.

Alter Patriarch oder moderner Mann? Gibt es einen Unterschied?

Ihr Thema bleibt doing gender, Ausübung des Geschlechts. Ist dieser Rüschenhintern eine Karikatur des Mannes, der lüstern durch seinen Instagramfeed scrollt und junge Frauen mit angewinkelten Beinen anschaut? Oder ein Feminist mit Bartöl und Holzfällerhemd, der die Ärmel hochkrempelt und ganz cottagemäßig so einen Riesenschnuller für seine Freundin schnitzt?

Ist er ein alter Patriarch oder ein moderner Mann? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Wurden wir durch die Pandemie gerade wieder Lichtjahre zurückgeworfen? Die Arbeiten deuten es an und erscheinen genau zum richtigen Zeitpunkt. Alles auf Anfang.