Aus Sicht der Krähen
Im Departement Calvados liegt die Kleinstadt Vire mit gut zehntausend Einwohnern. Sie ist kleinste Stadt Frankreich, die über eines der 38 französischen Centres Dramatique National verfügt, der staatlich geförderten Theater. Nach Vire flohen im März aus der Ukraine Vlad Troitskyi und sechs der sieben Performerinnen von Dakh Daughters, einer Frauenband zwischen Poesie, Theater und Musik. Hier haben sie an „Danse Macabre“ gearbeitet, eine theatrale Form der Selbstverteidigung gegenüber dem russischen Angriff. Uraufgeführt wurde es im Pariser Odéon-Theater,.
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Im Berthier-Saal nahe der Porte de Clichy befinden sich kleine Pappfassaden auf der linken Bühnenseite. Ihre Fensterchen leuchten heimelig, als Bild einer nächtlichen Stadtlandschaft. Rechts stehen Musikinstrumente. Kaum haben die Dakh Daughters in Tutu über Punk-Dessous die Bühne erobert, rocken sie los, rufen das Publikum zum Mittanzen auf. Ihr Song „Rozy / Donbass“ hatte 2014 den Euromaidan elektrisiert; die Band ist zupackend und beweist das auch zu Beginn ihres finsteren Totentanzes in Paris.
Kaum rockt der Saal, ist die Feierlaune schon wieder vorbei. Die Dakh Daughters haben die Stimmung angefacht, um eine Fallhöhe zu schaffen und an die Zeit vor dem russischen Überfall zu erinnern. Man ahnt, die Ukraine, Kiews Kulturszene brodelte. Nun aber leuchten die Fenster der Häuschen feuerrot auf und verschwinden von der Bühne, ebenso wie die Heimat. Sie werden zu Rollkoffern und bevölkern den leeren Raum, die Dakh Daughters tragen Trenchcoats – Universalcode für Menschen unterwegs. Ein erster Text erinnert an den Hiob und die Prüfungen seines Glaubens. Zahlen drücken seinen Reichtum aus, wenig später sind sie Chiffren des Todes – als Zahlen der Opfer in Butscha und Irpin. Schwer erträglich ist der Bericht einer Frau, deren Mann vor der Haustür von zwei russischen Soldaten ermordet wird, die dann ins Haus eindringen und sie vergewaltigen. Der „Danse Macabre“ ist Anklage, Bericht und Revue, eine Musik zwischen Postpunk und ukrainischen Volksweisen.
Bilder des Flüchtlingselends
Viele Songs begleiten choreographierte Bilder des Flüchtlingselends: Rollkoffer, die ineinander krachen, hinter denen man vor Kugeln Schutz sucht oder die zum Rollator für Verletzte werden. Nur selten schieben sich Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit mit Episoden aus der Kindheit dazwischen. Einmal werden die Koffer wie geöffnete Schreine aufgestellt, ausgekleidet mit Samt und Tüll und besteckt mit Figürchen. Sie stehen für die kindlichen Quellen von Lebensenergie, von Utopie und Hoffnung.
Das Freak-Kabarett lässt ahnen, dass der Krieg weit über Zerstörung und das Töten hinausgeht: Er zerstört die mentalen Lebensadern auch der Unversehrten. Fast klagend ruft eine der Performerinnen im französischen Exil: „Aber ich bin in Sicherheit“, als wäre es eine Schuld, den Krieg nur im Herzen, nicht auf der Haut zu tragen.
Ruf der Krähen als Leitmotiv
Das „Croa Croa“, der Ruf der Krähen, ist Leitmotiv eines anderen Songs, der die Zerstörung aus der Vogelperspektive schildert. Er pulst, angetrieben von Keyboard, Schlagzeug, Kontrabass, drei der 15 Instrumente, die die Performerinnen beherrschen. Seit 2012 sind sie Teil des Kiewer Dakh-Theater unter der Leitung von Vlad Troitskyi.
Heute ist das Dakh Contemporary Arts Center eine unabhängige Kultureinrichtung für Musik und Theater. Der in Russland geborene Schauspieler, Regisseur und Dramaturg Vlad Troitskyi war es auch, der nach dem Weltmusikquartett DakhaBrakha 2012 die Dakh Daughters gründete. Ihre mal ritualhafte, mal rockig auftrumpfende Performance versteht sich als eine Art Fronttheater im Kampf gegen Russlands Aggression, wenn auch als keines, das an der Front im Donbass spielt, sondern im europäischen Hinterland die Herzen für das Schicksal der Ukrainerinnen öffnen soll. In Paris ging das wie im Fluge.