Die Welt am Abgrund

Schon die Tuttischläge zu Beginn von Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre setzen den Maßstab, so rabiat, wie Gastdirigent Markus Poschner sie dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin abverlangt. Dieses Konzert steht ganz im Zeichen des Rhythmus: Hier gilt’s nicht dem Schönklang, sondern der physischen Wucht, dem, was in die Magengrube fährt, um von dort zum Herzen vorzudringen. Musik als Klage, Anklage, Schrei.

Rund ums Dirigentenpult türmen sich Schlaginstrumente, Glockenspiel, Vibraphon, ein Ölfass, Metallkanister, Blechplatten, ein Arsenal voller Trommeln. Im Zentrum des RSB-Nachmittags in der Philharmonie steht der Perkussionist Alexej Gerassimez mit der Uraufführung von „Leviathan“, einem viersätzigem Schlagzeugkonzert des Neuseeländers John Psathas.

Wahrlich ein Seeungeheuer von einer Komposition, mit eigens aus Meeresmüll recycelten Instrumenten, fünf weiteren Tutti-Schlagzeugern und einem orchestralen Tsunami schon im Eingangssatz mit dem Titel „Hightailin‘ to Hell“. Unerbittlich trommelnd, heizt Gerassimez den Musikern ein, evoziert hektisch stampfende Bässe, harsch harsch gerissene Saiten, „Star Wars“-Hymnen der Bläser.

Das Klima kippt, die Welt ist auf dem Höllentrip, und an den Küsten steigt die Flut, um es mit Jakob van Hoddis’ „Weltende“-Gedicht zu sagen. Bei Psathas weicht die Apokalypse zwischenzeitlich immerhin dem Traum von einer sich selbst überlassenen Natur. Ursprünglich zum Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 geplant, eröffnet das Auftragswerk im zweiten Satz einen Echoraum für die „Pastorale“, versetzt die Kuckucksrufe und anderen Vogelstimmen der „Szene am Bach“ mit flirrenden Soundreflexen.

Beethovens Sechste als verlorenes Paradies. Das zwitschert, klingelt, funkelt, gluckert, lässt das Glück aufscheinen – und sorgt für gute Laune in der Philharmonie, als Gerassimez das Wasser in einer Schale mit schnellen, patschenden Händen traktiert und es auch noch durch ein Nudelsieb rieseln lässt.

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Der dritte Satz, „Soon We’ll All Walk On Water“, beginnt mit Gerassimez‘ eigener Komposition „Soul of Bottle“, bei der er auf eine Plastikwasserflasche klopft, dribbelt und schnippst, ihr verblüffende Rhythmen und Töne entlockt. Psathas hat das Drei-Minuten- Stück orchestriert und mit allerlei Arten von aquatischen und ozeanischen Klängen angereichert.

Im Finalsatz steuert er den Untergang dafür umso unentrinnbarer an, im rasant-vertrackten 7/16-Takt. Klang und Krach, Musik und Geräusch: Wie gehen die Improvisationswerke des 34-jährigen Gerassimez mit der Orchesterpartitur von Psathas zusammen, der mit der Musik für die Eröffnung der Olympischen Spiele 2004 übrigens schon mal ein Milliardenpublikum hatte? Der Komponist und der in Berlin lebende Schlagzeuger, einer der weltbesten Multiperkussionisten, sind miteinander befreundet. Beide bewegen sich zwischen den Genres, mixen Neutöner, Jazz, Heavy Metal, Filmmusik, beide entgrenzen die Hörerfahrung. Schon 2010 hatte Alexej Gerassimez Werke von Psathas mit dem RSB aufgeführt, “Leviathan” wurde ihm auf den Leib geschrieben.

Auch bei Beethovens 7. Symphonie ist die Musik immer auf dem Sprung

Vor der Zugabe mit Gerassimez‘ „Asventuras“ für Snare Drum, einem hochvirtuosen Stück über die unendliche Vielfalt von Klopfen, Schlagen, Wirbeln und Wischen, freut sich der jugendlich wirkende Solist über die Zusammenarbeit mit dem reaktionsschnellen Orchester. Und darüber, dass sich eigentlich wenig geändert habe, seit er als Vierjähriger auf Blechdosen und Eimern für seine Kuscheltiere trommelte – sein Blick schweift dabei über das Publikum in der Philharmonie.

Tatsächlich reagiert das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ungemein wendig auf die Energieschübe und Stimmungsumschwünge des Schlagzeugers. Nicht weniger furios will Markus Poschner nach der Pause Beethovens 7. Symphonie verstanden wissen. Der Geschwindgalopp des Grundmotivs im Kopfsatz, der permanente Überschwang – diese Musik ist immer auf dem Sprung. Poschner wählt eher schnelle Tempi, sorgt mit seinem zupackenden Dirigat für eine Art Treibsandeffekt.

Die Welt trudelt in den Abgrund, alles fließt und reißt alles andere mit. Dabei verweigert das Orchester jegliche Schwermut; der Trauerprozession des zweiten Satzes verleiht es beschwingte Züge. Bloß das Tanzen nicht verlernen, schon gar nicht auf dem Vulkan.