Die besten Comics des Jahres

Emanzipationsdrama und Superhelden-Hommage, Science-Fiction- Thriller, Gesellschaftssatire und Drag-Comedy: Steven Applebys Comicerzählung „Dragman“ hat von all dem etwas. Vor allem aber ist es die Biografie einer starken Persönlichkeit, die fiktiv ist, aber dem Autor in vielerlei Hinsicht ähnelt.

Unkonventioneller Held: Eine Szene aus „Dragman“.Foto: Schaltzeit

Mit skizzenhaftem, vibrierendem Strich erzählt der britische Comiczeichner die Geschichte von August Crimp, Familienvater und leidenschaftlicher, wenngleich heimlicher Träger von Frauenkleidern. Die verleihen ihm Superkräfte, das daraus resultierende Doppelleben stellt ihn ständig vor neue Herausforderungen.

Crimp lebt in einer Zukunftswelt des ungezügelten Kapitalismus, in der Menschen ihre Seelen verkaufen und eine Mordserie an trans Menschen sein Umfeld erschüttert. Zusammen mit einer Truppe spleeniger Weggefährten begibt sich der Held wider Willen auf die Suche nach dem Mörder und macht nebenbei die Welt zu einem besseren Ort.

„Dragman“ ist jetzt von der Tagesspiegel-Jury zum besten Comic des Jahres 2021 gekürt worden. Neun Titel wählte die Jury, die erneut aus acht Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseite bestand, dieses Mal in die Endrunde. Jedes Jurymitglied hatte zuvor fünf Favoriten nominiert und mit Punkten von fünf bis eins bewertet.

Hier geht es zu den jeweiligen Top-5-Titeln der Jurymitglieder samt Begründung: Barbara Buchholz, Christian Endres, Moritz Honert,Lara Keilbart, Rilana Kubassa, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne.

Die Titelbilder der neun Favoriten 2021 der Tagesspiegel-Jurymitglieder.Foto: Carlsen, Edition Moderne, Schaltzeit, Reprodukt, Spector, Panini, Jaja

Auf der Shortlist landete jeder Titel mit mindestens fünf Punkten oder zwei Nennungen, diese wurden dann abschließend bewertet. Dabei gingen die Voten der Jurymitglieder wie bereits im Vorjahr bei einigen Titeln besonders weit auseinander – siehe Tabelle.

[Parallel zur Jury-Kür haben wir auch diesmal wieder die Leserinnen und Leser der Tagesspiegel-Onlineseiten gefragt, welche im vergangenen Jahr ihre Lieblingstitel waren. Hier gibt es eine Auswahl der Antworten.]

„Steven Appleby hat diesen Comic in dem für ihn typischen krakeligen, stricheligen, verschrobenen Stil gezeichnet, der bestens zu seinem zartbitteren Humor passt“, urteilt Jurymitglied Barbara Buchholz über den Siegertitel. „Er erzählt in mehreren Zeitebenen mit Rückblicken, die in monochromen Grüntönen gehalten oder wie ein Comicheft-Faksimile aufgemacht sind. Effektvolle Wasserfarben von Nicola Sherring ergänzen die Tuschezeichnungen wunderbar.“

Die besten Comic des Jahres - Das Tagesspiegel Ranking 2020
Die besten Comic des Jahres - Das Tagesspiegel Ranking 2020

Platz 2

Den zweiten Platz teilen sich zwei Titel. Zum einen landete dort die Science-Fiction-Erzählung „Auf einem Sonnenstrahl“ (Reprodukt, 544 S., 29 €) der US-Comicautorin Tillie Walden. „Ihre originelle Space Opera, zu einem Großteil in Japan entstanden und ab 2016 ursprünglich als Webcomic serialisiert, stellt die Meisterleistung einer damals 20-jährigen Künstlerin dar“, lobt Juror Christian Endres.

Weltraumarchitektur: Eine Seite aus „Auf einem Sonnenstrahl“.Foto: Reprodukt

„Feinfühlig-packend erzählt die Texanerin, die sich nie als Science-Fiction-Fan sah, von junger queerer Liebe auf einem Internat im All, faszinierenden Fischraumschiffen, Grenzland-Problemen und einer Crew, die als Familie auftritt.“ Waldens Charakterisierungen seien vielschichtig und smart, ihre sanften, charmanten Bilder verströmten „eine ganz eigene Magie, wie sie in den besten Ghibli-Animationsfilmen kaum größer sein könnte.“

Die biografische Erzählung „Rückkehr nach Eden“ (Reprodukt, 184 S., 24 €) des Spaniers Paco Roca bekam dieselbe Punktewertung und landete damit ebenfalls auf Platz 2. Darin spürt der Autor seiner Familiengeschichte nach, was sich zum „Fresko einer ganzen Epoche entwickelt“, wie Jurymitglied Ralph Trommer sagt.

Familiengeschichte: Eine Szene aus „Rückkehr nach Eden“.Foto: Reprodukt

„Roca lässt die zum Teil erschütternden Erinnerungen seiner Mutter in seinen sorgfältig getuschten klaren Zeichnungen lebendig werden, taucht sie in dunkle Grau-, Sepia- und Brauntöne, sodass sie mit den in den Comic integrierten alten Fotografien eine Einheit bilden.“ Mit pointierten Strichen konturiere der Zeichner seine Figuren tiefgründig. „Das Spanien der kleinen Leute mit ihren täglichen Sorgen wird realistisch dargestellt und nicht glorifiziert.“

Platz 3

Auf Platz 3 landete der Comic einer deutschen Autorin: Anna Haifischs „Residenz Fahrenbühl“ (Spector Books, 150 S., 14 €). Selbstreflexiv, ironisch und mit melancholischem Humor erzählt die Leipziger Zeichnerin darin von zwei Maus-Künstlern, die sich in einer abgeschiedenen Residenz wiederfinden und plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen sind – für die eine Maus ein Genuss, für die andere eine Qual.

Meta-Mäuse: Eine Szene aus „Residenz Fahrenbühl“.Illustration: Anna Haifisch

Mit kritzeligem Skizzenstrich lässt Haifisch ihre Figuren lebendig werden, in den Gesprächen der Mäuse geht es um Einsamkeit und Freundschaft, den Sinn der Kunst und die Frage, wie viel Isolation das Individuum aushält.

Platz 4

Der Science-Fiction-Manga „Search & Destroy“ (Carlsen, drei Bände à 232/240/320 S., je 15/18 €) kam auf Platz 4. Das Werk des Japaners Atsushi Kaneko ist eine futuristische Interpretation von Osamu Tezukas Samurai-Klassiker „Dororo“ und spielt in einer Cyberpunk-Welt, in der Menschen und Cyborgs eine von Misstrauen und Unterdrückung geprägte Koexistenz führen.

Speedline-Gewitter: Eine Doppelseite aus „Search and Destroy“.Foto: Carlsen

Hauptfigur ist eine junge Frau, die überwiegend aus Maschinenteilen besteht und darum kämpft, ihre menschliche Identität wiederzuerlangen. „Ein dystopischer, kompromissloser Rachefeldzug in gestochen scharfen Schwarzweiß-Kontrasten“, urteilt Jurorin Sabine Scholz.

Platz 5

Auf Platz 5: Der Avantgarde-Comic „Prisma“ (Edition Moderne, 272 S., 24 €), mit dem der britische Zeichner Joe Kessler die Möglichkeiten der Kunstform Comic neu auslotet. „Kessler öffnet in seinem surrealen Werk die Grenzen zwischen den Räumen“, sagt Jurymitglied Rilana Kubassa.

Stilwechsel von Panel zu Panel: Eine Szene aus „Prisma“.Foto: Edition Moderne

„In den verschiedenen Erzählungen gleiten die jungen Protagonist:innen mühelos hinüber – auf der Flucht vor bösen Träumen, Diktatoren oder Zauberern.“ Die starken Farben „mit ihrer Leuchtkraft versetzen die düstere Handlung der Geschichten noch mehr in den Bereich des Paradoxen“.

Platz 6

Das Comicalbum „Pacific Palace“ (Carlsen, 80 S., 13 €), in dem Christian Durieux die populären Comicfiguren Spirou und Fantasio ein politisch aufgeladenes Abenteuer erleben lässt, landete auf Platz 6.

Subtiles Kammerspiel: Eine Szene aus „Pacific Palace“.Foto: Carlsen

„Der belgische Zeichner überzeugt mit einem ausgefeilten Szenario, das im Kern eine zeitlose Satire auf den fragwürdigen Umgang eines demokratischen Staats mit Diktatoren erzählt, und verquickt dabei, virtuos wie Alfred Hitchcock, Suspense- mit Komödienelementen“, lobt Juror Ralph Trommer.

Platz 7

Eine Erzählung aus dem Batman-Universum kam auf Platz 7: „Joker – Killer Smile“ (Panini, 156 S., 29 €) von Jeff Lemire und Andrea Sorrentino. Hauptfigur ist hier der ewige Gegenspieler von Batman. „Die kammerspielartige Alternativweltgeschichte erzählt von dem zum Scheitern verurteilten Versuch des Psychiaters Ben Arnell, den Joker zu therapieren“, sagt Jurymitglied Moritz Honert.

Lachen ist die beste Medizin: Eine Szene aus „Joker: Killer Smile“.Foto: Panini

Die diesem Comic zugrunde liegende Frage „Was passiert, wenn du nicht mehr weißt, in welcher Welt du lebst?“ sei eine, „auf die auch unsere Gesellschaft, der in der politischen Diskussion zunehmend der gemeinsame Faktenboden abhandenkommt, erst noch eine Antwort finden muss.“

Platz 8

Auf Platz 8 landete ein Buch aus Berlin: Maki Shimizus „Über Leben“ (Jaja, 400 S., 27 €). „Das prekäre Alltagsleben als Künstlerin vermengt sie dabei mit vielen großen Themen unserer Zeit wie Gentrifizierung, Obdachlosigkeit, Familie und sexuelle Gewalt“, sagt Jurorin Lara Keilbart.

Bei Renate: In „Über Leben“ kommen viele reale Berliner Orte vor, hier die Comicbibliothek in Mitte.

„Zwischendurch darf auch etwas experimentiert werden. Die kindlich anmutende Bleistiftästhetik mit Tierfiguren trifft in ,Über Leben‘ auf heftige, drastische Themen.“ Die Doppeldeutigkeit des Titels finde sich auf jeder Seite – genauso wie die Stadt Berlin. „Ein herausragender Comic zum Immer-Wieder-Lesen.“