Frischluft für erschöpfte Städter

Schweizer Tourismuswerber wissen, wie es geht. „Rauf jetzt! Entflieh dem Grau. Gönn’ dir erholsame Schneetage. Unten grau, oben blau“ – der aktuelle, an Skifahrer und Winterwanderer gerichtete Appell auf der Webseite des Ferienorts Davos in der Graubündner Bergen ist mit einem fies eingegrauten Großstadtfoto unterlegt.

Eklig, diese Häuser, der Smog, die Blechschlangen da unten. Da leuchten die weiß verschneiten Gipfel vor kobaltblauem Himmel oben in den Alpen gleich noch mal so gut.

Nur die Berge versprechen Heilung

Hier die Großstadt als Moloch und Maschine, dort die gesundheitsfördernde Reinheit der Schweizer Berge. Von diesem Kontrast, aus dem Maler, Literaten, Mediziner und Touristiker das Bild eines Sehnsuchtsortes, eines Fluchtpunkts für kranke und erschöpfte Städter zimmerten, lebt die Alpenstadt seit 150 Jahren.

Derzeit mit 11 000 Einwohnern, 25 000 Touristenbetten und rund zwei Millionen Übernachtungen pro Jahr. Auch wenn sich die Feriendestination Davos-Klosters inzwischen mehr als Action-Paradies für Snowboarder und Mountainbiker inszeniert, statt als Domizil kultursinniger Feingeister und Höhenluftschwärmer. Vom alljährlichen tösenden Auftrieb internationaler Staaten- und Wirtschaftslenker beim „World Economic Forum“ im Januar ganz abgesehen.

Verschneit. Davos liegt in den Bündner Alpen auf 1600 Metern.Foto: Reuters/Arnd Wiegmann

Trotzdem funktioniert es: Blickt man in Berlin auf zögerlich rieselnden Schnee, der unter Füßen und Rädern zu Matsch wird, denkt man an die wattigen Davoser Flocken, die stundenlang fallen und über Monate eine kristalline Landschaft formen. Von der frosttrockenen Gebirgsluft ganz zu schweigen.

Kristallisationspunkt der Kulturgeschichte

Davos ist ein symbolischer Ort, ein Kristallisationspunkt europäischer Kulturgeschichte und politischer Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Davon erzählt die schöne Ausstellung „Europa auf Kur. Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos“, die nach ihrer ersten Station im kooperierenden Germanischen Nationalmuseum Nürnberg nun gewissermaßen nach Hause gekommen ist.

Ins Kirchner Museum nämlich, dessen moderner Flachbau aus Glas und Beton an der Promenade gegenüber des Hotels Belvedere liegt. Das Belvedere gehört zusammen mit dem einstigen Sanatorium und jetzigen Hotel Schatzalp zu den wenigen erhaltenen historischen Prachtbauten, die von einstiger mondäner Kurseligkeit erzählen in der stets im emsigen Umbau befindlichen Stadt.

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Gut für die Reiseplanung in pandemischen Zeiten: „Europa auf Kur“ läuft lange, bis Ende Oktober kommenden Jahres, und wird darüber hinaus von einem auch im Buchhandel erhältlichen, großartigen Katalogbuch und einer „Digitalstory“ auf der Museumswebseite flankiert.

Gesundheitsgefahren, deren Allgegenwart ein Gefühl der Dauerkrise schaffen: Was heute für die Corona-Pandemie gilt, galt noch vor gut 100 Jahren für Tuberkulose und Spanische Grippe. Diese Ängste und das Unbehagen an der Moderne schlagen sich im 19. Jahrhundert auch in der Begeisterung für die vermeintliche Bergidylle nieder.

Wo sonst Heilung finden?

Wenn nicht dort, wo sollte sonst Heilung für Körper und Seele zu finden sein? Aus dem schütter besiedelten Bauernflecken Davos, auf 1600 Metern in einem langgestreckten sonnigen Hochtal zwischen Wolfgangpass und Zügenschlucht gelegen, macht die Tuberkulose innerhalb weniger Jahrzehnte den Lungenheilort Europas, wenn nicht sogar der Welt.

1865 besuchen die ersten deutschen Kurgäste Davos, schon 1889 ist die Kleinstadt an das europäische Schienennetz angeschlossen. Zugverbindungen aus Paris, Mailand, Wien, London und Berlin führen direkt nach Davos, das exemplarisch für die Verbindung von Kur-, Sport- und Massentourismus steht.

Alpenparadies. Ernst Ludwig Kirchers Gemälde “Sertigtal im Herbst” von 1925/26.Foto: Kirchner Museum Davos Schenkung Erbengemeinschaft Amstad 2000

Ausstellungsschwerpunkte widmen sich Kunst, Politik, Literatur, Krankheit und Sport. Inklusive des hier erfundenen Holzrodelgeräts, des Davoser Schlittens, dessen Popularität mit Davos-Gästen wie Arthur Conan Doyle, Robert Louis Stevenson, Albert Einstein, Else Lasker-Schüler oder Hermann Hesse locker Schritt halten kann.

Das örtliche Gästeregister jener Jahre liest sich wie Europas „Who’s who“. Katia und Thomas Mann stehen 1912 natürlich auch drin. Mann führt mit seinem 1924 erschienenen „Zauberberg“ die reichhaltige Davoser Tuberkulose- und Sanatoriumsliteratur an.

[ Kirchner Museum Davos, bis 30.10.2022, Katalogbuch: Daniel Hess (Hrsg.): Europa auf Kur. Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und der Mythos Davos. Verlag Germanisches Nationalmuseum, 424 S., 45,50 €]

Auch der 1928 hier seinem Lungenleiden erlegene Schriftsteller Klabund ist mit dem Roman „Die Krankheit“ vertreten. Die körperliche Passivität und der Leidensdruck der Liegekur, zu denen die Kranken in den 24 Sanatorien, von denen heute gerade noch zwei existieren, verdammt waren, befeuert die Fantasie der Literaten.

Das Klischee der Tuberkulose als nobler Krankheit überempfindlicher Künstler, die zu neuen Erkenntnissen gelangen, indem sie die Welt aus der Horizontalen betrachten, ist allgegenwärtig. Genauso wie der tuberkulöse Tod, der auch im satirischen „Zauberberg“ seine erotische Aufladung erfährt.

Thomas Mann ist bestgehasst

Mit seiner Verachtung des dekadenten Kurbetriebs im damaligen Nobelrefugium, dem heute jeder Glamour abgeht, steht der in Davos seinerzeit bestgehasste Thomas Mann keineswegs alleine da. „Das ist ein phantastischer Höllenort wie aus dem Traumspiel von Strindberg“, schreibt Hugo von Hofmannsthal nach einer Visite.

Er bestehe nur aus Sanatorien, Tennisplätzen, Confiserien und Sarggeschäften. „Ich hätte nie gedacht, dass sich alle auf den Tod bezüglichen Industrien in einer so schamlosen Art in einem Curort breit machen können.“ Wenn’s ums Geld verdienen geht, waren sie nie zimperlich, die Davoser. Bis heute, wo unablässig neue Eigentumswohnungen zu Mondsummen gehandelt werden.

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Eine weitere Direktverbindung zu Deutschland zieht das Kapitel „Friedensinsel und Kriegsdämmerung“. Es beschreibt Davos als Zuflucht für Kriegsversehrte, Kriegsflüchtlinge, Freidenker und Friedensstifter. Wie unter einem Brennglas europäischer Zerrissenheit zwischen den Kriegen stehen ihnen Kriegstreiber gegenüber, etwa Wilhelm Gustloff.

Gustloff ist Landesgruppenleiter der Auslands-NSDAP. Der chronisch Lungenkranke arbeitet am Physikalisch-Meteorologischen Observatorium, das heute noch in veränderter Form in Davos Dorf existiert und seit 1907 Grundlagen der Klimaforschung schafft. Gustloff und seine Anhänger überziehen die Schweiz dreist mit NS-Propaganda.

So stellt es ein Titelbild der Schweizer Satire-Zeitschrift „Nebelspalter“ dar, auf der das Land als naiver Tor da steht, dem der Hakenkreuz-jonglierende Gustloff auf der Nase herumtanzt. Der Revolver, mit dem ihn 1936 ein jüdischer Student in Davos erschießt, findet sich zwischen den gezeigten Plakaten, Postkarten, Fotografien, Briefen, Tagebüchern, Romanmanuskripten, Gemälden und Medizin- und Sportgeräten aber nicht.

Kirchner erschießt sich in Davos

Im Gegensatz zur Browning-Pistole, mit der der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner sich 1938 in Davos das Leben nimmt. Seelisch zermürbt von Süchten, Kriegsangst und dem Druck der Nationalsozialisten, die seine Kunst in der Ausstellung „Entartete Kunst“ diffamieren.

Dem hinfälligen Maler berühmter Berliner Großstadtszenen wird Davos jahrelang zur zweiten Heimat. Er kommt 1918, um der Großstadthektik zu entfliehen und erblickt im harten Bergbauernleben ein Alpenparadies. Ein Ort des Neuanfangs, von dem die Erneuerung des Geistes im kriegsverheerten Europa ausgehen müsse.

Flammend expressive Bergbilder

Sinnlicher Höhepunkt ist die Gegenüberstellung berühmter Kirchner-Gemälde wie „Sertigtal im Herbst“, und „Alpleben“ mit Gemälden des gleichaltrigen, tuberkulösen Malers Philipp Bauknecht. Wo Kirchner idealisiert, diffamiert Bauknecht, dessen Bauern, Holzfäller und Ziegenhirten so vor dumpfer, roher Gewalttätigkeit zu dampfen scheinen.

Und dass vor derselben flammend expressiven Alpenkulisse, die Kirchners Bergbilder auszeichnen. Der bis heute wenig bekannte Bauknecht, der 1933 mit 49 Jahren in Davos stirbt, hasst und malt mit einer schöpferischen Wucht, die ihresgleichen sucht.

„Europa auf Kur“ zeigt, dass es die Kultur ist, die von Krisen und Krankheiten übrig bleibt.