Auf der Suche nach der inneren Heimat
Die Goldenen Zwanziger in Berlin: Comicautor Tobi Dahmen illustriert die Stadt als pulsierende Metropole. Prächtige Boulevards, eindrucksvolle Architektur, Museen, Kinos und Musiktempel.
Nachts lauscht in den Jazzclubs ein amüsierwilliges Publikum den Musikern aus Amerika. Darunter auch die beiden Jazzfans Frank Wolff und Alfred Löwe. Später, nach ihrer Flucht vor den Nazis in die USA, werden die beiden das legendäre Jazz-Plattenlabel „Blue Note“ gründen und sich Francis Wolff und Alfred Lion nennen.
Tobi Dahmen zeigt in seinem Berlin-Panorama aber auch, wie wichtig der Einfluss von jüdischen Unternehmern und Kreativen wie Wolff und Löwe auf Wirtschaft und Kultur war. Als sie und andere jüdische Künstler ins Ausland flohen, bedeutete das auch einen unermesslichen Verlust für die deutsche Kultur und Geschichte.
Dass sich in der Comic-Anthologie „Nächstes Jahr in“ (Hrsg. von Maike Heinigk, Antje Herden, Jonas Engelmann, Jakob Hoffmann. Ventil Verlag, 168 S., 25 €) noch viel mehr über die Bedeutung von Jüdinnen und Juden für die Gesellschaft erfahren lässt, macht aus ihr einen wichtigen Beitrag zum bundesweiten deutsch-jüdischen Festjahr anlässlich von (mindestens) 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland.
Die offizielle Zeitrechnung geht auf den 11. Dezember 321 zurück, als ein Edikt Kaiser Konstantins Juden die Berufung in städtische Ämter erlaubte. Dieser erste urkundliche Nachweis für die Existenz einer jüdischen Gemeinde in Deutschland markiert den Beginn einer wechselvollen Geschichte – des Leids und der Brüche aber auch der Vielfalt und Bereicherung in allen Lebensbereichen.
Ausgrenzung, Bedrohung und Verfolgung seit dem Mittelalter
In den elf Episoden des Bandes vermitteln 14 Zeichner:innen und Autor:innen wie Büke Schwarz, Barbara Yelin oder Hannah Brinkmann denn auch ganz verschiedene Aspekte im Leben ihrer Heldinnen und Helden – vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
[Wenn Sie aktuelle Nachrichten aus Berlin, Deutschland und der Welt live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Ohne Klischees zu bedienen blicken sie dabei auf religiöse Rituale, jüdische Kunst und Kultur, auf Alltagsantisemitismus, Verfolgung und Widerstand und nicht zuletzt auch jüdischen Humor. Unter anderem gefördert durch die Stadt Darmstadt und den Kulturfonds Frankfurt Rhein Main spielen ein paar Episoden zwar in Hessen, sind dabei aber weit übers Lokale hinaus relevant.
„Nächstes Jahr in“ reflektiert Ausgrenzung, Bedrohung und Verfolgung jüdischen Lebens in Deutschland durch die Jahrhunderte. Barbara Yelins Adaption von Mascha Kalékos Gedicht „Kein Kirchenlied“ ist dabei eine der besonders berührenden Geschichten des Bandes.
Ihre gespenstisch düsteren Bleistiftzeichnungen erzählen von den Seelenqualen der 1938 in die USA ausgewanderten Dichterin: „So einsam wie der Wüstenwind. So heimatlos wie Sand. Wohin ich immer reise, ich komm nach Nirgendland.“
Mit Simon Schwartz, der in seinem Comic die Geschichte des Arztes Jonas nachzeichnet, reisen wir dagegen ins mittelalterliche Darmstadt. Er war 1452 nachweislich der erste Jude, der sich dort aufhielt. Ein Jahr später starb der Sohn des regierenden Herzogs.
Hatte man den jüdischen Mediziner nach Darmstadt geholt, um den zukünftigen Regenten zu retten? Schwartz platziert den Arzt in eine dunkel-düstere Farbwelt, in der ihn die Schattengestalten der Leibärzte des Herzogs argwöhnisch beobachten.
In die Jetztzeit führt uns die 43-jährige Miriam Werner, Tochter eines Holocaust-Überlebenden, die ihr Leben entlang typischer Fragen von Nicht-Juden erzählt: „Du bist Jüdin? wurde ich als Kind erstaunt von Mitschülern gefragt, weil ich blond und blauäugig bin. Darauf hatte ich keine Antwort.“
Moni Port setzt Miriam Werner schlaglichtartigen Erzähl-Etappen als kreativ gestaltete Collage aus Familienfotos, Zeichnungen und Schreibmaschinenschrift um.
Unerfüllte Sehnsucht nach einer Heimat für Geist und Seele
Allen Comics schließen sich einige Seiten Text an, die bei der historischen Einordnung helfen, Figuren und Schauplätze erklären.
Sie wecken aber auch die Lust auf eigene Recherchen nach dem Lesen von eher kurzen Comics, wie Elke Renate Steiners unvermittelt einsetzende Geschichte über Glikl bas Judah Leib: Die Mitte des 17. Jahrhunderts geborene Unternehmerin übernahm erfolgreich den Gold- und Diamantenhandel ihres Mannes nach dessen Tod. Ihre später verfassten Memoiren gelten als erste erhalten gebliebene weibliche Autobiografie in Deutschland.
Glikl bas Judah Leib hadert am Ende, ob sie nicht im „Heiligen Lande“ ein gesicherteres und frommeres Leben hätte führen können.
Die Zweifel bei der Suche nach einer sicheren Heimat für Körper, Geist und die geschundene Seele sind denn auch so etwas wie der rote Faden vieler Comics der Anthologie: Mascha Kaléko verliert sich dabei im „Nirgendland“, der Maler Ludwig Meidner stellt verzweifelt fest: „Ich gehöre nach Deutschland. Die deutsche Kunst hat mich erzogen, nicht minder die deutsche Sprache.
Nur die beiden „Blue Note“-Gründer Frank Wolff und Alfred Löwe rufen hoffnungsfroh und erleichtert beim ersten Blick auf die New Yorker Skyline aus: „Hier ist’s richtig!“