Bricolage des Schwarzseins
Wenn am heutigen Mittwochabend der Leipziger Preis für europäische Verständigung vergeben wird, dürfte diese Verleihung zu einer der außergewöhnlichsten in der Geschichte dieses Preises gehören. Pandemiebedingt findet sie nicht wie sonst im März und im Gewandhaus in Leipzig statt, sondern in der Nikolai-Kirche; pandemiebedingt gibt es zwei Verleihungen und zwei Lobreden, denn der Vorjahressieger László Földényi konnte seinen Preis wegen des kompletten Ausfalls der Leipziger Buchmesse nicht entgegennehmen.
Und dann ist da der diesjährige Preisträger Johny Pitts. Der Afrobrite ragt allein wegen seiner Jugendlichkeit, er wurde 1987 geboren, aus der Riege der zumeist altehrwürdigen Preisträgerinnen und Preisträger heraus.
Nicht zuletzt tut er das aber auch, weil er sich mit den Gepflogenheiten der Popkultur auskennt, gewissermaßen qua Geburt: Als Sohn einer weißen Stahlarbeiterin aus Sheffield und eines afroamerikanischen Musikers bezeichnet er sich nicht nur als „schwarzes Mitglied der Arbeiterklasse“, sondern auch als „Kind des Northern Soul“.
Aufgewachsen ist er mit dem Hip-Hop und der Graffiti-Kultur der neunziger Jahre. Diese wurde ihm zum einen von einem weißen Freund aus einer komplett jamaikanischen Umgebung nahegebracht, zum anderen von jemenitischen, pakistanischen und indischen Communitys seines Viertel.
Und das Northern- Soul-Element stammt von seinem Vater, der Mitglied einer Band namens Fantastics war und den Northern Soul in die britische Popkultur brachte. „Die Musik war ein Ticket in ein Land, wo er als Afroamerikaner nicht als Teil eines nationalen Problems wahrgenommen wurde“, schreibt Pitts in seinem Buch „Afropäisch“ (Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Suhrkamp, 2020, 461 S., 26 €.).
Pitts geht es um einen utopischen Move
Natürlich hat der junge Brite, der in London als Fernsehmoderator und Fotograf arbeitet, den Preis für europäische Verständigung nicht wegen seiner Nähe zum Pop und zur Popkultur bekommen, sondern weil er für sein unbedingt lesenswertes, großartiges Buch eine ungewöhnliche Reise durch Europa gemacht hat: eine Reise auf den Spuren schwarzer Communitys mit dem Ziel, die Wechselbeziehung schwarzer und europäischer Kulturen zu erkunden – und wie „das Schwarzsein an der Gestaltung einer allgemeinen Identität beteiligt ist“.
„Afropäisch“ ist der Begriff, der ihn auf seiner Reise leitete, ein Begriff, der zunächst ein Label aus der Mode und der Musik war, erfunden von dem Talking- Heads-Mastermind David Byrne und der Frontfrau der belgisch-kongolesischen Band Zap Mama, Marie Daulne.
Pitts versucht nun, dieser schwarzen, europäischen Erfahrung, diesem „Afropa“ einerseits einen utopischen Move zu geben, andererseits aber hinter die Kulissen dieses Labels zu schauen und die Realität einer Mehrheit der in Europa lebenden schwarzen Menschen wahrzunehmen: die der vielen Gruppen schwarzer Männer, die auf den Bahnhöfen europäischer Großstädte herumlungern oder in den Fußgängerzonen und an Stränden Schmuck oder Textilien verkaufen; die der aus vielen Ländern Afrikas stammenden Toiletten- und Putzfrauen; und die „der Communitys von Entrechteten, die im Hinterland der Städte völlig unsichtbar um ihre Existenz rangen“.
In Moskau: resiginierte Traurigkeit
Also ist er von England zuerst über Calais nach Paris gereist, von dort nach Brüssel, Amsterdam, Berlin und Stockholm, weiter nach Moskau und wieder zurück in den Westen Europas nach Marseille und schließlich Lissabon.
Wie kompliziert es sich mit der schwarzen Identität verhält, spürt Pitts allein schon in Paris, als er an einer Stadtführung durch das „schwarze Paris“ teilnimmt, zum Beispiel in den Teil der Stadt, in dem in den vierziger Jahren die Schriftsteller James Baldwin und Richard Wright lebten.
Unterwegs ist er mit einer Gruppe, die ausschließlich aus Afroamerikaner:innen besteht. Dabei schimpft einer von ihnen, ein gewisser Jimmy, ohne Unterlass über die Menschen aus Westafrika auf den Pariser Straßen. Er mokiert sich über ihr Aussehen, ihre Kleidung, ihre vermeintlich mangelnde Intelligenz, ungeachtet der Tatsache, dass er selbst in dem USA dem schlimmsten Rassismus ausgesetzt war. Pitts Kommentar: „Rassismus und Vorurteil sind Käfige – eine Knaststrafe, die den Verurteilten davon abhält, die wunderbare Vielfalt der Welt wahrzunehmen.“
Dann trifft er in Paris schwarze Akademikerinnen und Akademiker, die gegen Rassismus demonstrieren, und er begibt sich in eine der Banlieues, nach Clichy-sous-Bois. Hier lebt ein vorwiegend arabischstämmiges Subproletariat in einer Gegend, die ihm wie „ein Schlachtfeld“ vorkommt und noch schlimmer aussieht als „irgendein Ort in South Central Los Angeles oder Queens“.
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Reden will hier kaum jemand mit ihm, registrieren tut der Reisende Hoffnungslosigkeit und Wut. Pitts fallen die Unterschiede zu Sozialsiedlungen in den größeren Städten in England auf, aber auch zu denen vergleichbarer Vororte. Etwa in Rinkeby in Stockholm, wo es eher strukturiert zugeht und ein „aggressives Blödeln“ die vorherrschende Stimmung ausmacht.
Oder in Cova de Moura, einer Favela vor den Toren Lissabons, wo es ein großes Gemeinschaftsgefühl gibt. Oder auch in einer schwarzen studentischen Enklave in Moskau, wo ihm „eine resignierte Traurigkeit“ entgegenschlägt.
Johny Pitts mag sich dadurch, dass er eine Reisereportage geschrieben hat, „vom Druck der Theorie befreit“ haben, wie er das einleitend schreibt. Doch zeichnet sein Buch aus, dass er ebendiese Theorie und die schwarze Historie nicht vernachlässigt. Er macht viele Zufallsbekanntschaften und lässt sich treiben, er besucht die Wohnhäuser von James Baldwin oder Franz Fanon an der Côte d’Azur, aber immer wieder trifft er sich auch gezielt mit Intellektuellen, Schriftstellern oder Akademikern, um auf jeder Station seiner Reise Wissensexkurse unternehmen zu können.
Er erinnert daran, wie die Kapverdier nach Lissabon kamen und was es mit der portugiesischen, bei Weitem im Land nicht aufgearbeiteten Kolonialgeschichte auf sich hat. Oder er zitiert aus einem Bericht des schwarzen Russlandreisenden Langston Hughes aus den dreißiger Jahren, „I wonder as I wander“, und was es zu Zeiten der Sowjetunion mit der Anwerbung von Studentinnen und Studenten aus Ländern wie Mozambique, Angola oder dem Kongo auf sich hatte.
Afrika liegt mitten in Europa
Auch in Brüssel arbeitet er sich zusammen mit Historikern und Künstlerinnen bei einem Besuch des Afrika-Museums tief in die furchtbare Kolonialgeschichte Belgiens ein, inklusive der Betrachtung des aus dem Jahr 1930 stammenden, 1946 zwar überarbeiteten, jedoch kaum weniger rassistischen „Tim und Struppi“- Comics „Tim im Kongo“ des Zeichners Hergé.
Pitts erzählt von den Befreiungskämpfen oder erörtert die Schwierigkeiten, die viele europäische Staaten haben, sich mit ihrer kolonialen Geschichte auseinanderzusetzen. Und dagegen schneidet er immer wieder die „afropäische“ Gegenwart. Zum Beispiel in Amsterdam bei einem traurigen Konzert von Public Enemy mit lauter „besoffenen weißen Männern mittleren Alters“ im Publikum; den Geist des schwarzen Widerstands entdeckt er da lieber andernorts in der niederländischen Metropole.
Oder in Marseille, wo er die Utopie eines afropäischen Miteinanders, von schwarzen Menschen unterschiedlichster Herkunft am ehesten verwirklicht sieht, in einer Mischung aus dem Harlem der zwanziger und dem Sheffield der neunziger Jahre „plus Tupfer von Rio und Marrakesch“. Pitts porträtiert eine Kultur, die sich nur schwer auf den Nenner einer einzigen schwarzen Identität bringen lässt, eine afropäische Kultur, die von ihrer Vielfalt und ständigen Transformation geprägt wird.
Am Ende spricht er von einer „Bricolage des Schwarzseins“ – und von einem Afrika, auf das er schlussendlich von einem sturmgepeitschten Gibraltar aus blickt, „das sowohl in Europa war als auch zu Europa gehörte“.