Gefangen in der eigenen Psyche
Wenn draußen die Gefahr lauert, wird das eigene Heim Zufluchtsort und Gefängnis zugleich. Das vergangene Jahr hat diesen Gedanken zur Kollektiv-Erfahrung werden lassen. Bereits 2018 ist der Film dazu entstanden, „The Woman In The Window“. Mit einiger Verzögerung und gecanceltem Kinostart läuft er nun auf Netflix.
Anna (Amy Adams) hat sich in ihr großes altes Haus zurückgezogen. Nicht freiwillig, sie leidet unter Agoraphobie, Platzangst. Eigentlich ist sie Kinderpsychologin, mittlerweile befindet sie sich selbst in Therapie. Die Drehbuch-Adaption zum Film stammt von Schauspieler und Teilzeit-Autor Tracy Letts, der einen kurzen Auftritt als Annas Psychiater hat. Er verschreibt ihr ein neues Medikament, das schon mal Halluzinationen auslösen kann, selbst wenn man es nicht – wie Anna es tut – mit jeder Menge Rotwein runterspült.
Die Tabletten zügeln jedenfalls nicht ihre Neugierde. Die Familie, die gegenüber einzieht, kennt sie bereits bestens, als erst der 15-jährige Sohn (Fred Hechinger) an ihre Tür klopft, danach dessen Mutter Jane (Julianne Moore). Eindringlinge im Kokon, den Anna um sich gesponnen hat. Amy Adams spielt das wunderbar: die innere Unruhe, das Unbehagen, wie hinter einem Vorhang hervor, den sie für die beiden für kurze Zeit lüftet. Lange genug, um zu sehen, wie Jane im Haus gegenüber erstochen wird. Oder sind diese Bilder nur Produkte ihrer Einbildung, Nebenwirkungen ihrer Medikamente? Anna ist sich bald selbst nicht mehr sicher.
Vorbilder für „The Woman In The Window“ gibt es viele, vor allem Alfred Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“. Der Film hat seit Erscheinen vor fast 70 Jahren in regelmäßigen Abständen Kunstschaffende zu Remakes inspiriert, auch den Buchautoren A.J. Finn, der 2018 die Vorlage für „The Woman In The Window“ herausgebracht hat – einen Bestseller, der noch im selben Jahr von Joe Wright verfilmt wurde.
Der Engländer Wright wagt sich mit seinen Filmen immer wieder in die künstlerisch interessanten Randbereiche des Mainstreams vor. Er erkundet gern die Wirkungsweise von Medien: In „Abbitte“ machte er den Prozess des Geschichtenerzählens sicht- und hörbar, seine „Anna Karenina“-Version von 2012 siedelte er in einem alten russischen Theater an.
Türen öffnen einen Raum zu Annas Erinnerung
Wright platziert in seiner Hommage früh ein paar Szenenbilder aus „Das Fenster zum Hof“. Überhaupt flimmern in Annas Haus ständig irgendwo alte Filme über Leinwand und Bildschirme. Wright wechselt auch mal in den Blickwinkel eines Fotoapparats und einer Handykamera. Er führt tief hinein in ein Labyrinth der Blicke und Geheimnisse.
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Die Bilder teilen sich, werden durch Spiegel gebrochen und zurückgeworfen. Wer beobachtet hier wen? Wer hat am Ende mehr zu verbergen? All die Bild-Ebenen entkräften jedoch nicht den grundlegenden Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Gesehenen. Das liegt vor allem daran, dass Anna angesichts ihrer Erkrankung keine glaubwürdige Erzählerin abgibt.
Sie ist mit ihrem Haus verschmolzen, es ist Abbild ihres Bewusstseins. Kameramann Bruno Delbonnel erkundet das Innere in wunderbaren, in Orange- und Blautönen gehaltenen Bildern. Seine Kamera schwebt losgelöst über das Parkett, die Treppen hinauf und hinunter. Türen öffnen sich zu Räumen in Annas Erinnerung, Menschen schieben sich hinein wie aus ihrem Unterbewusstsein, offenbaren ein grundlegendes Trauma.
Der Showdown fällt nicht nur überraschend brutal aus. Nach all dem Sinn fürs Atmosphärische, den das Psycho-Kammerspiel zuvor vermittelt hat, fühlt er sich aber an wie der Gipfel der Einfallslosigkeit. Das Spiegelkabinett aus Mord, Illusion und Wahn, plattgewalzt von stumpfer Horror-Dramaturgie.
Darin lässt sich aber auch ein Trost finden: Gemessen am Grauen, das Anna am Ende in ihrer vermeintlichen Zufluchtsstätte überfällt, sind die meisten doch noch glimpflich durch den Corona-Lockdown gekommen.